Lewin, M. 2020. Der Stachel der Selbsttätigkeit und das Ausschöpfen der Freiheit. Zur Vollständigkeit der fünf Weltansichten beim späten Fichte, Fichte-Studien 48: 204-219. 

https://doi.org/10.1163/9789004422544_013.

Abstract

In the later Fichte the reflection splits the world into a fivefoldness of its possible view. To get through all the a priori arranged levels from sensuality to the Doctrine of Science means to use up all the possibilities of the views of the world. I will examine whether Fichte can offer us a direct proof of completeness of the standpoints or at least show indirectly that there must be exactly five of them. Which answer would he give us if we argued that history, skepticism and nonentity could complement the array?

Keywords

Fivefoldness – worldviews – completeness – proof – history – skepticism

Zusammenfassung

Die Reflexion spaltet nach Fichte die Welt in eine Fünffachheit ihrer möglichen Ansicht. Das Durchlaufen der a priori geordneten Stufen von der Sinnlichkeit bis zur Wissenschaftslehre stellt zugleich ein Ausschöpfen der Möglichkeiten dar, sich zur Welt zu verhalten. Ich werde prüfen, ob Fichte uns einen direkten Beweis der Vollständigkeit der Standpunkte geben oder zumindest indirekt dafür argumentieren kann, dass es genau fünf sein müssen. Was würde er uns antworten, wenn wir behaupteten, die Geschichte, der Skeptizismus und die Nullität könnten die Reihe ergänzen?

Schlüsselbegriffe

Fünffachheit – Weltansichten – Vollständigkeit – Beweis – Geschichte – Skeptizismus

 

1 Einleitung

Im Folgenden möchte ich prüfen, ob die Vollständigkeit der Weltansichten als solche überhaupt mit den Mitteln, die uns Fichte an die Hand gibt, bewiesen werden kann. Hierfür benötige ich drei Schritte:

     Im ersten Schritt rufe ich in Erinnerung, wie Fichte zur Formulierung der Theorie der Weltansichten kommt und was sie beinhaltet. Meine These (T1) zu diesem Schritt ist erstens, dass sie ein Resultat aus verschiedenen Vorarbeiten Fichtes ist, die bereits auf das Kriterium der Vollständigkeit hinauslaufen und zweitens, dass mit den Weltansichten nicht nur Fälle von gewöhnlichem Wissen (und den dazugehörigen Wissenschaften), sondern im weiteren Sinne auch die Grundprinzipien bzw. die Fundamente der relativen für sich bestehenden philosophischen Systeme gemeint sind.

     Im zweiten Schritt prüfe ich, ob Fichte einen direkten Beweis der Vollständigkeit der fünf Weltansichten liefern kann. In Frage kommt hierbei (1) die Struktur der Fünffachheit und (2) eine Figur der praktischen Selbstbestimmung und des Ausschöpfens von „Freiheiten“ in der Anweisung zum seligen Leben von 1806. Meine These (T2) dazu ist, dass der direkte Beweis wenig überzeugend ist.

     Es bleibt daher der negative, indirekte Beweis, übrig, den ich im dritten Schritt auf seine Plausibilität hin untersuchen möchte. Dabei konfrontiere ich die Weltansichten (1) mit einem theorieexternen Einwand: Warum gehört z.B. die Geschichte bzw. die Geschichtsphilosophie oder -wissenschaft nicht zu der Liste der Weltansichten? und (2) mit einem theorieinternen Einwand: Warum gehören die Nullität und der Skeptizismus, die bei Fichte Erwähnung finden, nicht zu den Standpunkten? Damit verbinde ich die Hauptthese (T3), dass, während der direkte Beweis problematisch bleibt, Fichte zumindest indirekt darauf hindeuten kann, dass alle Wissensformen in den fünf Weltansichten verankert sein müssen.

 

2 Erster Schritt: Der Inhalt der Theorie der Weltansichten

Aus meiner Sicht erwächst Fichtes Theorie der Weltansichten hauptsächlich aus folgender Fragestellung: Wie können die verschiedenen Standpunkte, die im Wissen auftreten und einander widerstreiten, koordiniert werden? Das Problem des Perspektivismus, der divergierenden Sichten oder Perspektiven, scheint ihm schon relativ früh und spätestens seit der Bekanntschaft mit Reinholds Philosophie bewusst geworden zu sein.[1] Wenn es nur ein System des Wissens geben soll, dann ist die Pluralität der Ansichten eine Herausforderung und zugleich ein Prüfstein für die Stabilität dieses einen Systems. Und zwar nicht nur die Pluralität der Ansichten, sondern jede unvermittelte, nicht genetisch abgeleitete Mannigfaltigkeit stellt eine Gefahr für die Integrität und die Kohärenz des Ganzen dar.[2]

     Innerhalb der Standpunkte, die beim frühen Fichte vorkommen, kann man eine Grundunterscheidung vornehmen, die genauso bei Kant, Reinhold, Schelling und Hegel auftritt. Es gibt einerseits die Ansicht des Nichtphilosophen, des natürlichen Bewusstseins bzw. des gemeinen Menschenverstandes und andererseits des Philosophen, des philosophischen Bewusstseins bzw. des Wir mit der Bedeutung: Wir, die hier gerade die Wissenschaftslehre betreiben[3] oder Wir, die fortgeschrittenen Phänomenologen in der Phänomenologie des Geistes[4]. Die theoretischen, praktischen, idealistischen, realistischen, dogmatischen usw. Standpunkte gehören alle zu den philosophischen. Die Aufgabe, durch deren Lösung die Wissenschaftslehre sich als ein einziges zusammenhängendes System bewähren soll, ist also zum einen die Koordination und Berichtigung der philosophischen Standpunkte und zum anderen die Aufhebung der Grunddisjunktion zwischen dem natürlichen und philosophischen Bewusstsein. Ohne die Bewältigung des Letzteren kann das monistische Projekt als gescheitert angesehen werden. Und in der Tat bestimmt Fichte seit der Grundlagenschrift die Versöhnung des Nichtphilosophen mit dem Philosophen als eine der Hauptaufgaben des praktischen Teils der Wissenschaftslehre:

 

     [A]ber unser System fügt einen praktischen Teil hinzu, der den ersten [also den theoretischen (Anmerkung von M.L.)] begründet und bestimmt, die ganze Wissenschaft dadurch vollendet,       alles, was im menschlichen Geiste angetroffen wird, erschöpft und dadurch den gemeinen Menschenverstand, der durch alle Vor-Kantische Philosophie beleidigt, durch unser theoretisches  System aber ohne jemalige Hoffnung auf Versöhnung, wie es scheint, mit der Philosophie entzweit wird, vollkommen mit derselben wieder aussöhnt. (GWL GA I/2, 282)

 

Die Rolle dieses Versöhnungsmotivs bei Fichte wird oft unterschätzt. Ich nenne zwei Gründe, warum das nicht geschehen darf. Erstens ist die Versöhnung des Nichtphilosophen mit dem Philosophen kein Nebenziel, sondern eine der Hauptaufgaben der Wissenschaftslehre gemäß dem Primat der praktischen Vernunft.[5] Die Wissenschaftslehre zielt auf das Umschaffen des Menschen (vgl. WL-1804-II GA II/8, 18ff.), auf die Berichtigung seiner Erkenntnisse und seiner moralischen Einstellungen, was nicht erreicht werden kann, solange sich die Philosophie mit dem natürlichen Bewusstsein im absoluten Streit befindet. Zweitens darf das Versöhnungsmotiv nicht unterschätzt werden, weil es sich um den Kern der transzendentalphilosophischen Methode Fichtes dreht. Wir kommen nämlich niemals anders zum ersten Prinzip ohne eine radikale Abstraktion von allem, was nicht zu ihm gehört.[6] Wir müssen von allen Formen des Erscheinungswissens, die ein Nichtphilosoph kennt und worin er seine Fundamente findet, also von allem Faktischen des natürlichen Bewusstseins radikal abstrahieren, um zur absoluten Vernunft zu gelangen. Das tun wir aber letztendlich nicht um der gänzlichen Vernichtung des Bewusstseins selbst willen, sondern der Endzweck dieser Vernichtung ist seine Affirmation, aber eine geläuterte Affirmation durch die wissenschaftliche Ableitung bzw. die notwendige Genese der Formen seines Wissens.

     Genau so ist der zweite Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 strukturiert, an dessen Ende, wie schon beim ersten Vortrag, allerdings in etwas stärker ausgearbeiteter Form, bei Fichte die fünf Weltansichten vorkommen und womit er auch aus meiner Sicht bisher am besten die Aufgabe der Versöhnung des gemeinen Menschenverstandes mit der Philosophie löst. Die ersten 15 Vorlesungen des ersten Teils der Wissenschaftslehre 1804/II widmen sich der richtigen Auffassung des ersten Prinzips, die nur dadurch erreicht werden kann, dass von allem Faktischen, d.h. dem Bewusstsein und selbst von den realistischen und idealistischen Standpunkten abstrahiert wird, so dass das Grundprinzip des reinen Seins als absolutes in sich geschlossenes Singulum eingesehen wird. Die 13 darauf folgenden Vorlesungen des zweiten Teils behandeln die Möglichkeit des Herausgehens aus dem reinen Sein bzw. der absoluten Vernunft zum Erscheinungswissen. Das stellt insofern keine große Schwierigkeit dar, als wir diskursiv denkende Wesen sind und bei der genetischen Erklärung des ersten Prinzips immer schon den Bildcharakter mit uns bringen. Den Zweck dieses Teils bestimmt Fichte wie folgt: Soll es zur Erscheinung und Darstellung des absoluten Wissens, der Wissenschaftslehre, kommen, dann muss das gewöhnliche Wissen vorausgesetzt werden (vgl. WL-1804-II GA II/8, 376ff.). Das heißt für uns: Der gemeine Menschenverstand ist per se kein Feind der Philosophie, er und seine Formen des Wissens sind vielmehr dasjenige, was die Wissenschaftslehre überhaupt erst ermöglicht, also ist er bzw. sind wir zwar nicht ihr Wirklichkeits-, aber ihr freier Möglichkeitsgrund schlechthin (vgl. WL-1804-II GA II/8, 400ff.). Die genetische Ableitung des Bildes des absoluten Wissens ist nur darum möglich, weil solche Bestimmungen des Wissens zur Hilfe genommen werden, »wie wir sie ursprünglich im Leben vorfinden« (WL-1804-II GA II/8, 378). Das gewöhnliche Wissen des natürlichen Bewusstseins umfasst vier grundlegende Standpunkte (vgl. WL-1804-II GA II/8, 410-421 und AzsL GA I/9, 103-115), die Fichte wie folgt ordnet:

     (1) Der Standpunkt der Sinnlichkeit. Auf dieser Stufe wird der Mensch vom Glauben an die Natur beherrscht, an den Materialismus. Für ihn hat alles nur Wert und Bedeutung, was durch äußere Sinne in ihn hineinkommt – nur das ist für ihn »das Höchste, Wahrhafte und für sich Bestehende« (AzsL GA I/9, 106).

     (2) Der Standpunkt der Legalität. Hier herrscht der Glaube an das Recht und die Persönlichkeit. Das Gesetz der Ordnung wird zum spezifischen Wert für diese Stufe. Dieses gilt dieser Weltansicht als das Höchste und Wahrhafte. Nach Fichte sind Kant bis zur Kritik der praktischen Vernunft und er selbst bei der Aufstellung der Rechtslehre und der ersten Sittenlehre Beispiele dieser Ansicht (vgl. AzsL GA I/9, 108).[7]

     (3) Der Standpunkt der höheren Moralität. Gegenüber dem Standpunkt der Legalität als der niederen Moralität gilt auf dieser Stufe nicht das ordnende, sondern das erschaffende Gesetz.  Der Mensch lebt hier im Trieb für eine bestimmte Idee (vgl. WdG GA I/8, 80ff. und GdgZ GA I/8, 235ff.). Die Ergriffenheit durch das Heilige, Gute und Schöne nimmt die Stelle des Gesetzes ein und wird zum Höchsten dieser Weltansicht. Als Beispiele nennt Fichte Platon und die Dichter – man könnte sich hierbei z.B. gut Friedrich Schiller oder Hölderlin vorstellen.[8]

     (4) Der Standpunkt der Religion. Diese Stufe lebt von der Einsicht, dass die Idee des dritten Standpunktes nicht zufällig entdeckt oder vom Menschenverstand gemacht, sondern die Erscheinung des inneren Wesens Gottes sei. Damit folgt die Stabilität, die Unerschütterlichkeit im Leben für die Idee oder für Gott. Während der Mensch auf dem Standpunkt der höheren Moralität vom Erfolg oder Misserfolg der Darstellung der Idee, z.B. im schönen Kunstwerk, abhängt, wird die Liebe oder Seligkeit des Religiösen von keinen äußeren Umständen getrübt (vgl. AzsL GA I/9, 158ff.). Das Leben aus Liebe zu Gott ist also der höchste wahrhafte Wert auf diesem Standpunkt.

     Was macht nun die Wissenschaftslehre mit diesen vier Formen des gewöhnlichen Wissens? Fichte bestimmt sie als die fünfte und die höchste Weltansicht, die die Selbständigkeit und Relativität dieser Formen vernichtet und sie nach ihrer Methode zu einem Ganzen umbildet. Sie verhält sich negativ zu den vier unteren Stufen des Wissens, indem sie alles Faktische in ihnen tilgt und ihr Gegenteil wird – die absolute Genesis – und positiv, indem sie diese in sich aufnimmt. Die Wissenschaftslehre versöhnt sich also mit dem natürlichen Bewusstsein dadurch, dass sie alle seine Wissensformen auf genetische Weise in sich darstellt (vgl. AzsL GA I/9, 112).[9]

     Für unseren Zweck, die Theorie der Weltansichten auf ihre Vollständigkeit zu untersuchen, ist noch Folgendes relevant. Jede Weltansicht enthält ihr eigenes Absolutes.[10] Dieses ist kein theoretisches Gebilde und muss auch für den Menschen gar nicht ein ihm bewusstes Konstrukt sein. Das Absolute jeder Stufe ist dasjenige, wo sich das Bewusstsein am besten fühlt – wo sein Herz, seine Liebe zuhause ist. Fichte drückt es in der Anweisung zum seligen Leben in der kurzen Formel aus: »Was du liebest, das lebest du.« (AzsL GA I/9, 57). Zu jeder Weltansicht gehört also notwendig ein bestimmter Seinsaffekt, die Vorliebe für eine bestimmte Art der Objekte und des Genusses aus ihnen (vgl. AzsL GA I/9, 133ff.).[11] Damit wird klar, dass Fichte mit den einzelnen Standpunkten in erster Linie weder philosophische Theorien noch Systeme meint, sondern vor-theoretische Einstellungen bzw. Grundaffekte, aus denen jedoch Theorien, Wissenschaften und Systeme erwachsen können.[12] Zu beweisen, dass die Theorie der Weltansichten vollständig ist, bedeutet also zu beweisen, dass jede Form des philosophischen oder nicht-philosophischen Wissens notwendig auf einen der Grundaffekte zurückführbar sein muss, den die Wissenschaftslehre genetisch ableitet.

 

3 Zweiter Schritt: Der direkte Beweis

Fichte argumentiert zwischen 1804 und 1806 oft mit dem Schema der Fünffachheit, welches (1) für die Begriffsstruktur steht – für das, was er »Durch«, eine wechselseitige Bestimmung der Glieder durch einander, nennt; (2) für die Wissensstruktur, also für die fünf Weltansichten, aber auch für die fünf Ideen aus der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten von 1805, in die sich die eine Idee spaltet und die den Weltansichten entsprechen (vgl. WdG GA I/8, 71-79); und (3) für die Epochenstruktur in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (vgl. GdgZ GA I/8, 200ff.).[13] Man könnte vermuten, dass hinter dem Fünffachheitsschema eine logisch notwendige Struktur steht, die ein Argument für die Vollständigkeit ihrer Glieder liefern könnte. Das ist aber leider nicht so. Die Begriffsstruktur unterscheidet sich maßgeblich von der Wissensstruktur und diese wiederum von der Struktur der Zeitalter. Um uns das zu vergegenwärtigen, können wir uns die ersten beiden im Vergleich ansehen. Dazu müssen wir nicht auf besondere Inhalte achten – es reicht, wenn wir uns nur auf die Form konzentrieren.

     Die Struktur des Durch bezeichnet Fichte als eine Drei- bzw. Fünffachheit der Synthesis (vgl. WL-1804-II GA II/8, 64f.) und sie sieht wie folgt aus:

(1) Strukturmoment a (positio)

(2) Strukturmoment b (positio)

(3) Bestimmung von a durch b

(4) Bestimmung von b durch a

(5) Synthesis – wechselseitige Bestimmung von 3. und 4. durch einander[14]

     Die Struktur der Ableitung der Wissensformen aus der Einheit der absoluten Vernunft ist dagegen wie folgt aufgebaut:

(1) Strukturmoment a (datur)

(2) Strukturmoment b (datur)

(3) Stehen im Bilden von b (actus positionis)

(4) Stehen im Bilden von a (actus positionis)

(5) Synthesis (vgl. WL-1804-II GA II/8, 410-421)

     Zunächst fällt auf, dass im zweiten Fall die beiden Schlüsselmomente a und b als gegeben und nicht als gesetzt aufgefasst werden sollen. Auch ist die Reihenfolge der Punkte (3) und (4) verändert – und Fichte gibt auch kein Argument dafür an, warum b vor a kommt, was aber für das Verständnis der hierarchischen Struktur der Weltansichten von Belang wäre. Und schließlich wird die Handlung des Durch-Einander-Bestimmens durch den Akt des Bildens ersetzt, wobei der Akzent auf dem Akt liegt – auf dem Stehen oder Sein im unmittelbaren Akt. Dadurch wird unklar, wie die Synthesis ohne das Durch, also wechselseitige Bestimmung, bei den Weltansichten aussehen soll. Aus dem Strukturzusammenhang der Fünffachheit – wenn sie rein formal betrachtet wird – kann daher kein zwingendes Argument für die Vollständigkeit der fünf Standpunkte geschöpft werden. Dass Fichte mehrere Varianten der Fünffachheit bilden kann, zeigt vielmehr, dass sie ein Mittel dafür ist, die Logik der Verhältnisse hinter bestimmten Wissensmomenten rein zu betrachten. Man sieht dies leicht, wenn man sich die Freiheit nimmt und überlegt, ob noch weitere logische Operationen mit a und b möglich sind, etwa ein b-b-Verhältnis. Diesem könnte genauso ein konkreter Wissensinhalt zugeordnet werden. Es gibt also mehr als nur fünf logisch unterscheidbare Verhältnisse und es kann folglich nicht behauptet werden, es seien nur fünf Standpunkte möglich.[15]

     Wenden wir uns also der zweiten Möglichkeit des direkten Beweises zu – dem inneren bzw. dem pragmatischen Beweis. Wir haben gesehen, dass die Fünffachheit des Durch, also des Begriffs, nicht mit der Struktur der Weltansichten identisch ist. Der Grund dafür liegt insbesondere darin, dass Fichte, wie gesagt, mit den Standpunkten vor-theoretische Seinsaffekte bzw. Vorlieben verbindet. Diese lassen sich zwar miteinander vergleichen, aber nicht durch einander bestimmen. Jeder Seinsaffekt steht allein und unvermittelt für sich selbst da und duldet keinen anderen. Auf diese Weise kommt auch der Schein der Selbstständigkeit und der Absolutheit in jeden Standpunkt hinein. Nur die Wissenschaftslehre ist imstande, durch den indirekten Beweis (soll es zur Erscheinung des absoluten Wissens kommen, muss das gewöhnliche Wissen vorausgesetzt werden) ihre vorgebliche Selbstständigkeit zu negieren und auf ihre Beschränktheit hinzuweisen.

     Diese absolute Vermittlung der Wissenschaftslehre leistet aber nicht die Bestimmung der Weltansichten durch einander. Wenn diese eine fünffache Spaltung der Äußerung des Absoluten schlechthin a priori darstellen,[16] wie kommt man dann überhaupt von einem bestimmten Standpunkt unvermittelt zum anderen? Diese wichtige Frage hat Fichte leider nur ansatzweise und zwar in der populären Schrift Die Anweisung zum seligen Leben gelöst. Die Lösung liegt in der praktischen Selbstbestimmung. Nur derjenige, der seinem Instinkt zum Absoluten folgt, derjenige, der sich entwickeln und dadurch alle seine Freiheit vollenden will, wird von der Sinnlichkeit bis zur Wissenschaftslehre hinaufsteigen. Dabei kann er zwar, muss aber nicht unbedingt sich in jede Stufe pragmatisch einleben. Nach Fichte, wie übrigens z.B. auch nach Hegel, verfügt jeder Mensch über eine Naturanlage zur Vernunft, zum Übersinnlichen und zur Freiheit. Sie steht im Widerstreit zum Diesseitigen, Sinnlichen oder zur Abhängigkeit schlechthin.[17] Dieser Widerstreit bildet bei Hegel den Kernpunkt, den Motor der dialektischen Bewegung. In Fichtes Theorie der Weltansichten äußert er sich einerseits als der Stachel der Selbsttätigkeit (vgl. AzsL GA I/9, 146) – man kann sagen, der Stachel der Anlage zur Freiheit bringt den Menschen zur Vollendung seiner Freiheit in der Wissenschaftslehre oder in anderen Worten, die „göttliche Idee“ (der Vervollkommnung) sticht ihn zu ihr hinauf – und andererseits als der Widerstreit gegen diese Anlage bzw. gegen diese Idee, der jedoch die Unseligkeit oder das Gefühl der Unzufriedenheit mit sich bringt. Auf jeder Stufe bis zur Religion und der Wissenschaftslehre fühlt sich der Mensch unwohl, unsicher und unselig, auch wenn er sich diesen Gefühlen verschließt. Nur indem er das Maß seiner Freiheit, der Freiheit des Genusses der Welt nach dem Schema der Weltansichten, ausschöpft, wird sich sein Trieb zur Selbsttätigkeit beruhigen (vgl. AzsL GA I/9, 146).

     Lässt sich aus diesem Modell ein direkter Beweis der Vollständigkeit der Standpunkte ableiten? Dagegen sprechen zumindest zwei Einwände. Erstens wäre der Beweis in diesem Fall an die innere Erfahrung des Einzelnen gebunden. Nach Fichte muss aber ausdrücklich nicht unbedingt jede einzelne Stufe durchlaufen werden. Es fehlt bei ihm auch ein theoretischer Apparat, der zwingende Argumente liefern würde, mit denen man einen Skeptiker bewegen kann, auf dem Weg der Weltansichten voranzuschreiten und sie insgesamt kennen zu lernen. Entweder folgt er einer praktischen Selbstbestimmung und bringt bestimmte Werte mit, die ihn in seiner Selbstentwicklung vorantreiben, oder nicht. Die Entwicklung der dialektischen Methode, die den Skeptiker zum zwingenden Übergang zu höheren Standpunkten führt, ist vielmehr Hegels Verdienst. Zweitens könnten dem Skeptiker weitere Standpunkte einfallen, die die Vollständigkeit der Fünffachheit infrage stellten. Für die Prüfung der möglichen Einwände gehen wir in den dritten Teil über.

 

4 Dritter Schritt: Der indirekte Beweis

 Im negativen Beweis geht es darum zu prüfen, ob mögliche Vorschläge für weitere Grundaffekte bzw. Weltansichten angenommen werden und sie damit die Integrität und Vollständigkeit der Weltansichten gefährden können. Ich unterscheide hierbei zwischen den theorieexternen und -internen Einwänden. Unter den theorieexternen Einwänden verstehe ich Einfälle von Standpunkten, die bei Fichte im Zusammenhang mit den Weltansichten nicht direkt vorkommen. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte. Weder in der Deduktion der Einteilung der Wissenschaftslehre am Ende der Wissenschaftslehre nova methodo (vgl. WLnm-K GA IV/3, 520ff.), die aus meiner Sicht ein Vorläufer der Theorie der Weltansichten ist, noch bei dem Schema der fünf Standpunkte selbst, spielt die Geschichte für Fichte eine Rolle. Liegt der Grund für die Vernachlässigung der Geschichte vielleicht darin, dass er sie nicht früh genug ableiten und in das Gesamtsystem eingliedern konnte, weil er zunächst z.B. über keine Irrationalitätskonzeption verfügte, wie Emil Lask behauptet?[18]

     Ich denke, dass man hier zwischen zwei Punkten differenzieren muss – zwischen der Möglichkeit der Ableitung der Geschichte aus den Prinzipien der Wissenschaftslehre einerseits und der Bedeutung der Geschichte für die Wissenschaftslehre andererseits. Daraus, dass sie für Fichte eine ziemlich untergeordnete Rolle einnimmt, folgt nicht, dass er sie nicht bereits vor 1800 ableiten konnte. Auch der frühe Fichte könnte eine Epochenstruktur wie in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters mit dem Instrumentarium der ersten Wissenschaftslehren bilden, also dem teleologisch gedachten Freiheitswert, der für die höchste Wissenschaft steht, nach der Methode des Entgegensetzens die Abhängigkeit entgegenstellen und dazwischen die übrigen Übergangsstufen aufstellen. Die Ableitung der Geschichte konnte vielmehr warten, da sie nicht zur näheren Einteilung der Wissenschaftslehre gehört. Es ist möglich, mithilfe der Theorie der Weltansichten zu zeigen, warum das nicht der Fall ist. Dazu muss einleuchten, dass es keinen eigenständigen Grundaffekt – eine Vorliebe für die Geschichte überhaupt – geben kann, und zwar aus dem Grund, dass sie immer nur unter den fünf möglichen Aspekten betrachtet werden kann. Entweder aus dem Aspekt der Sinnlichkeit mit dem dazugehörigen Affekt, woraus eben die Geschichte eine bloße Aufzählung von Fakten wäre, oder aus der Perspektive des Rechts, woraus sie ebenso rein faktisch bliebe, aber mit der Hervorhebung der Entwicklung der einzelnen natürlichen Subjekte wie auch der Rechtssubjekte usw. Fichtes Darstellung der Geschichte in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters selbst geschieht aus dem Grundaffekt der Religion. »Welches Denken war also bei der Darstellung der Epochen vorherrschend?«, fragt sich Fichte: »[E]s war ein religiöses Denken; alle unsere Betrachtungen waren religiöse Betrachtungen, und unsere Ansicht, und unser eignes Auge in dieser Ansicht, religiös.« (GdgZ GA I/8, 386).[19]

     Damit scheint Fichte gegen den theorieexternen Einwand des Fehlens der Geschichte gewappnet zu sein. Die Liebe zur Geschichte kann nur ein aus den fünf Grundaffekten der Weltansichten abgeleiteter Nebenaffekt sein – sie kann selbst nicht anders als nach den fünf Weisen betrachtet werden. Wie verhält es sich aber mit den theorieinternen Einwänden? Bei der Darstellung der Fünffachheit der Ansicht kommen nämlich zwei weitere Standpunkte in Frage – der sogenannte Standpunkt der Nullität und der Standpunkt des Skeptizismus.

     »Die Klarheit gewinnt allenthalben durch den Gegensatz« (AzsL GA I/9, 130) – dieser sowohl beim frühen als beim späten Fichte hinter der Methode des Entgegensetzens stehende Gedanke bringt ihn zur Darstellung des Standpunktes der Nullität bzw. des Zustands (AzsL GA I/9, 141) der Nullität. Damit ist zunächst nichts anderes als die totale Unseligkeit, Energie- und Genusslosigkeit gemeint. Jedoch ist hiermit nicht bloß ein Gegensatz zur absoluten Seligkeit, die nach Fichte ab dem Standpunkt der Religion erreicht werden kann, sondern auch zu jeder Stufe davor angezeigt, insofern sie bestimmte Formen des Weltgenusses implizieren. Der Mensch in diesem Zustand müsste mit den Eigenschaften »interesselos«, »gleichgültig«, »unselbständig«, »nicht konzentrationsfähig« usw. charakterisiert werden. Er kommt nie zu einer kräftigen Auffassung der Welt – diese ist ihm ein »graue[r] Schatten, und ein Nebelgebilde.« (AzsL GA I/9, 131) – aber auch nie zu der der einzelnen Gegenstände des äußeren Sinnes. Er ist, wie man sagen kann, gar nicht da.[20]

     Es erscheint fraglich, ob ein beispielhafter Vertreter dieses Zustandes überhaupt gefunden werden kann, vielmehr stellt dieser ein Konstrukt zur Bestimmung dessen dar, was die Seligkeit nicht ist. Der Zustand der totalen Konzentrations- und Gegenstandslosigkeit kann also nicht zu den Standpunkten gezählt werden. Nun könnte jedoch ein Skeptiker auf die Idee kommen zu sagen, dass die Konzentrationslosigkeit selbst doch ein Beruhen auf etwas, nämlich auf der Konzentrationslosigkeit, ist und daher zu den Standpunkten hinzugezählt werden muss. Diesem kann man entgegnen, dass der Zustand der Nullität per definitionem nicht zu den Weltansichten gezählt werden kann. Mangels der Auffassungsschwäche kommt der Mensch auf dieser Stufe, wenn es einen solchen überhaupt gibt, gar nicht zu einer Ansicht der Gegenstände, geschweige denn der Welt. Und weiterführend ist es ihm auch nicht möglich, seine Ansicht, den Standpunkt, kundzutun bzw. geltend zu machen.

     Schwieriger ist der Umgang mit dem möglichen Einwand, dass der Skeptizismus die sechste in der Gesamtzahl der Weltansichten werden soll. Der Skeptiker – abgesehen von den Philosophen wie Hume, Maimon und Aenesidemus, mit kritischen hilfreichen Beiträgen – ist für Fichte seit Anbeginn des Projektes der Wissenschaftslehre eine persona non grata. Der unerwünschte Skeptiker ist derjenige, der die Möglichkeit eines Systems überhaupt leugnet (GWL GA I/2, 279ff.). Er ist also kein scharfsinniger Verbesserer des Systems, sondern ein hoffnungsloser Kritiker. Nach Fichte befindet sich ein solcher permanent im performativen Selbstwiderspruch – er kann nämlich die Möglichkeit des Systems nie anders als systematisch leugnen: »Es ist durch die Natur des menschlichen Geistes schon dafür gesorgt, daß er auch unmöglich ist.« (GWL GA I/2, 280). In der Periode zwischen 1804 und 1806 steht seine Position schlechthin für den »Mangel an Verstande mit dem vornehm tönenden Namen des Skeptizismus« (AzsL GA I/9, 73), für die Unentschlossenheit und Flachheit des Geistes. Der Skeptiker ist nach Fichte nicht nur erkenntnistheoretisch schwach, sondern auch sittlich schlecht, was einander bedingt. Er steht für das Element der Verkehrtheit, den Mangel am Trieb zur Vervollkommnung – ein Motiv, das sich bei Fichte seit den ersten Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten wiederholt (BdG GA I/3, 53f.). Er ist der Gegensatz zum Ideal des Gelehrten als dem sittlich besten Menschen seines Zeitalters (BdG GA I/3, 57f).

     Im Hinblick auf die Weltansichten tritt der Skeptiker als ein Verworrener auf, der zwischen zwei oder mehreren Weltansichten unentschieden hin und her schwebt (vgl. AzsL GA I/9, 108f. und 176ff.). Dieser Standpunkt würde in etwa dem Skeptizismus des Selbstbewusstseins bei Hegel entsprechen, der zwischen der Unwandelbarkeit und Wandelbarkeit hin und her wechselt, ohne sie in ein vernünftiges Verhältnis zueinander zu setzen. Dies geschieht entweder aus dem Mangel an Verstand oder aus der Verkehrtheit und Mangel an Liebe. Der Skeptizismus scheint zunächst ein selbständiger Standpunkt zu sein und auch eine Art der Freiheit, sich nicht zu entscheiden oder sich Zeit für die Entscheidung zu nehmen. Dennoch ist er für Fichte keine grundlegende Weltansicht neben den anderen, sondern ein Symptom der Dekadenz. Erstens aus dem Grund, dass es bereits anderer ursprünglicher Weltansichten bedarf, um sich zwischen ihnen nicht entscheiden zu können – er ist also höchstens ein abgeleiteter niederer Standpunkt, wie es ähnlich bei der Geschichte aussah. Zweitens ist der Skeptizismus vielmehr eine Methode, die eventuell zu verschiedenen anderen, pluralen Ansichten führt – die Fichte als einen »Reichthum von Materialien der Meinung« (GdgZ GA I/8, 256) bezeichnet – und daher, wie die Nullität, höchstens ein vorübergehender Zustand ist. Denken wir uns einen von den kommenden »Skeptikern« des späten 19. Jahrhunderts, die Fichte antizipiert, z.B. Nietzsche, so ist auch in der Tat der brüllende Löwe, der mit skeptischer Kraft die überkommenen Werte vernichtet, nicht der Endzweck, sondern das Kind.[21] Bliebe es nämlich beim Löwen, dann käme es zur gewöhnlichen Konsequenz des Skeptizismus, die Nietzsche als »Krankheit des Willens« bezeichnet.[22] Es kann daher keine skeptische Weltansicht, sondern nur einen vorübergehenden skeptischen Zustand geben. Dadurch scheint Fichte auch gegen den theorieinternen Einwand des Fehlens des Skeptizismus gesichert zu sein.

 

5 Schlussbemerkung

Wir gingen aus von der Frage, ob die Vollständigkeit der Weltansichten bewiesen werden kann, und zwar mit Fichtes eigenen Mitteln. Dazu wurden zunächst die Theorie selbst sowie ihre Wurzeln dargestellt. Im zweiten Teil gab uns die Untersuchung des direkten Beweises eine schlechte Aussicht. Weder aus der abstrakten Form der Fünffachheit noch aus dem Modell des praktischen Fortschritts über die einzelnen Standpunkte ließ sich ein überzeugendes Argument entwickeln. Die Prüfung des negativen Beweises hat dagegen gezeigt, dass die Vollständigkeit der Weltansichten zumindest indirekt einleuchten kann. An den Beispielen des Fehlens der Geschichte und der Zustände der Nullität und des Skeptizismus wurde die Ursprünglichkeit der fünf Hauptstandpunkte deutlich, zu welchen jene bloß abgeleitete niedere Ansichten sind. Es lässt sich daraus aber natürlich kein besonders durchschlagendes Argument ableiten.

     Für den Anspruch der Wissenschaftslehre wäre der Erfolg des direkten Beweises wesentlich wichtiger. Das große Problem, das sich ihm aber in den Weg stellt, liegt im Charakter des faktischen Wissens selbst, welches Fichte in das Schema der Fünffachheit bringt. Es ist die Nichtgenesis schlechthin, ein nicht weiter abzuleitender Rest. Die Genesis in der Wissenschaftslehre 1804/II endet eigentlich mit der Analyse der Einsicht in die absolute Vernunft, welche die folgende Reihe ergibt: (1) stehendes Objekt (a, datur), (2) stehendes Subjekt (b, datur), (3) Stehen im Bilden des Subjekts (b), (4) Stehen im Bilden des Objekts (a) und (5) die Synthesis. Auch wenn sie sich als vollständig erweisen könnte, wäre das kein Grund dafür anzunehmen, dass damit auch alle dazu gehörigen Weltansichten erschöpft seien. Denn: Warum jedem dieser Glieder genau dieser oder jener Standpunkt zugeordnet ist und warum die Hierarchie sich auf eine bestimmte Weise darstellt, lässt sich nicht weiter ableiten.[23] Es ist eine faktische Zuordnung unter dem praktischen Gesichtspunkt der Vervollkommnung des Menschen.

 

 

 

[1]    Eines der Grundmotive Reinholds ist die Beendigung des philosophischen Dissenses durch die Analyse des Vorstellungsvermögens. Die vier Fundamentalsysteme, der Empirismus, Rationalismus, Skeptizismus und Kritizismus – vgl. Reinhold, Karl Leonhard: Beitrage zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen. Bd. II, Fabbianelli, F. (Hg.), Hamburg 2004, S. 128f. – können nur durch ein eindeutiges, durch sich selbst bestimmtes und von allen akzeptiertes Fundament, den Satz des Bewusstseins, in ein vernünftiges Gespräch miteinander treten. Zur lange wenig beachteten Bedeutung von Reinholds Philosophie für Fichtes Wissenschaftslehre vgl. Breazeale, Daniel: »Zwischen Kant und Fichte. Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie.« In: Kersting, W./Westerkamp, D. (Hg.): Am Rande des Idealismus. Paderborn 2008, S. 9-39. Vgl. auch die Feststellung von Christoph Asmuth: »Fichtes Philosophie ist eine Philosophie der Perspektive.« – Asmuth, Christoph: »Wie viele Welten braucht die Welt? Goodmann, Cassirer, Fichte.« In: Fichte-Studien 35 (2010), S. 79.

[2]    Es sei nämlich der πρῶτον ψεῦδος, von Tatsachen auszugehen (vgl. WL-1804-II GA II/8, 202f.). Es wird in der Wissenschaftslehre nichts geduldet, was nicht genetisch eingesehen worden ist (vgl. WL-1804-II GA II/8, 238f.).

[3]    Ganz deutlich wird die Rolle des Wir bei Fichte im XV. Vortrag der Wissenschaftslehre 1804/II, bei dem es heißt, dass wir das gewonnene reine Sein selbst sind, und zwar insofern wir kräftig den Begriff vernichten und uns dadurch zum aktuellen Vernunft-Leben erheben (vgl. WL-1804-II GA II/8, 230ff.). Wir sind diejenigen, die die Buchstaben der Wissenschaftslehre in uns beleben und dadurch die wahre Wissenschaftslehre betreiben, bzw. sind sie: »Wir selber, die W.-L.« (WL-1804-II GA II/8, 302); »Wir selber, in unserm Thun und Treiben sind Wissen, Denken, Licht, oder wie Sie es nennen wollen.« (WL-1804-II GA II/8, 297).

[4]    Vgl. Marx, Werner: Hegels Phänomenologie der Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in ›Vorrede‹ und ›Einleitung. Frankfurt am Main 2006, S. 124-133.

[5]    Zumindest in einer der Bedeutungen dieses Primats. Vgl. Breazeale, Daniel: »Das fragwürdige ›Primat der praktischen Vernunft‹ in Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹.« In: Fichte-Studien 10 (1997), S. 253-271.

[6]    Fichte macht das besonders anschaulich am Beispiel des »Baumes an sich« (vgl. Vergleichung des vom Herrn Professor Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre – GA I/3, 259).

[7]    In der Tat würde Kant auch nicht widersprechen, sondern sogar voll zustimmen, dass er nicht die darauf folgende Weltansicht vertritt – sie ist, nach seinen Ausführungen in der Kritik der praktischen Vernunft, die Weltansicht der Schöngeister – der moralischen Schwärmer, die ihre Triebfedern aus etwas anderem als der Achtung vor dem praktischen Gesetz nehmen (KpV AA 5, 85f.).

[8]    In Jacobi sieht Fichte einen halben Vertreter dieser Ansicht (vgl. AzsL GA I/9, 110).

[9]    Zu den Weltansichten allgemein vgl. Girndt, Helmut: »Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes.«, In: Fichte-Studien 1 (1990), S. 108-120; Janke, Wolfgang: Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York 1993, S. 384-392: Traub, Hartmut: »Realität und System. Das Realitätsproblem in Fichtes Theorie der Fünffachheit.« In: Fichte-Studien 6 (1994), S. 435-448 und ders. (1995): »Vollendung der Lebensform. Fichtes Lehre vom seligen Leben als Theorie der Weltanschauung und des Lebensgefühls.« In: Fichte-Studien 8 (1995), S. 161-191; Adolphi, Rainer: »Weltbild und Ich-Verständnis. Die Transformation des ›Primats der praktischen Vernunft‹ beim späteren Fichte.« In: Fichte-Studien 23 (2003), S. 1-37; Seyler, Frederic: Fichtes »Anweisung zum seligen Leben«. Ein Kommentar zur Religionslehre von 1806. Freiburg/München 2014, S. 99ff.

[10]  Aus diesen Absoluta erwachsen nicht nur die Formen des gewöhnlichen Wissens, sondern auch die von philosophischen (Teil-)Systemen – dies wird bei Fichtes Ausführungen zu den drei Fundamenten von Kant besonders anschaulich präsentiert (vgl. WL-1804-II GA II/8, 26-35).

[11]  Die Ableitung der Wissenschaften aus den Weltansichten erinnert an die Deduktion der Einteilung am Ende der Wissenschaftslehre nova methodo (vgl. WLnm-K GA IV/3, 520ff.).

[12]  Das ist eine große Leistung von Fichte noch vor den Philosophen wie Nietzsche, Heidegger oder Dilthey, die die Rolle der vor-theoretischen Dimension der Theoriebildung doppelt unterstrichen.

[13]  Günter Meckenstock gibt bei seiner Untersuchung der Struktur der Fünffachheit nur die ersten beiden Formen an. Schon allein aus diesen erkennt er ganz richtig, dass die Struktur in formaler Hinsicht nicht eindeutig sei – vgl. Meckenstock, Günter: Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804-1806. Göttingen 1973, S. 91f. Zu demselben Ergebnis kommt auch Walter E. Wright: Introduction, in: The Science of Knowing. J.G. Fichte’s 1804 Lectures on the »Wissenschaftslehre«. Übersetzt von Walter E. Wright. Albany 2005, S. 17ff. 

[14]  Meckenstock bezeichnet die fünfte Stufe als »Vermittlungsvermittlung«. Ich folge bei der Darstellung der Struktur der Fünffachheit seiner Variante. Wolfgang Janke bietet eine alternative Version an, nach der die Positionen (1) und (2) wegfallen und stattdessen nach der Synthesis noch zwei »entschiedene« Synthesen, von a-b zu b-a und umgekehrt auftreten – vgl. Janke, Vom Bilde des Absoluten, S. 240. Im entsprechenden Textabschnitt in der Wissenschaftslehre 1804/II findet man keinen Hinweis auf die Notwendigkeit von zwei weiteren Synthesen, die schon in der allerersten Vermittlungsvermittlung enthalten sind. Der Argumentationsverlauf legt vielmehr nahe, dass die Glieder, die durch einander bestimmt werden sollen, zunächst überhaupt schlechthin als getrennte und voneinander unabhängige gesetzt werden.

[15] Man kann sich auch überlegen, ob neben dem »Stehen im Bilden« und »datur« nicht noch weitere Auffassungs- und Umgangsweisen mit a und b möglich sind, denen konkrete Wissenserscheinungen zugeordnet werden könnten.

[16]  In der Anweisung zum seligen Leben betont Fichte, dass die Fünffachheit nicht etwa ein Resultat der Entwicklung der Menschheit oder des Einzelnen sei – vgl. AzsL GA I/9, 105f.

[17]  Vgl. WLnm-K GA IV/3, 333f. Vgl. Hegel, G.W.F.: Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin, TWA 10, S. 406ff.

[18]  Nach Emil Lask gebe es bei Fichte ab 1797 eine fundamentale Änderung zum »kritischen Antirationalismus«, die letztlich das spätere Aufkommen seiner Geschichtsphilosophie begünstigte. Vgl. Lask, Emil: Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tübingen und Leipzig 1902.

[19]  Dennoch ist die Geschichte teilweise auch unter dem wissenschaftlichen Aspekt des Philosophen dargestellt worden. Zum Verhältnis der Religion zur Philosophie bei Fichte vgl. Asmuth, Christoph: »Wissenschaft und Religion. Perspektivität und Absolutes in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes.« In: Fichte-Studien 8 (1995), 1-19.

[20]  Wie nach dem christlichen Bild des »Totseins, und Begrabenseins, bei lebendigem Leibe« (vgl. AzsL GA I/9, 133).

[21]  Vgl. Nietzsche, F.W.: Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 29ff.

[22]  Vgl. Nietzsche, F.W.: Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 139.

[23]  Nach Joachim Widmanns Feststellung hat Fichte dieses Problem der »Applikation« auch nie gelöst – vgl. Widmann, Joachim: »Zum Strukturverhältnis der W.L. 18041 und 1804².«. In: Fichte, J.G.: Erste Wissenschaftslehre von 1804, Hans Gliwitzky (Hg.), Stuttgart 1969, S. 50.