Lewin, M. 2021. “Einleitung”. In: Das System der Ideen. Zur perspektivistisch-metaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte, Freiburg/München: Alber, 23-38. https://doi.org/10.5771/9783495825242.
Analytical table of contents (pp. 11-19): Link.
1 Einleitung
Nimmt man sich heute ein Buch in die Hand, bei dem es um die Vernunft oder um ihre Begründung gehen soll, dann werden sich darin mit höchster Wahrscheinlichkeit Betrachtungen über das finden, was synonymisch genauso gut als Rationalität, rationale Haltung, Verstand oder Vermögen zu denken und sprechen, zu urteilen, zu entscheiden, zu planen, zu kalkulieren, Übergänge zwischen unterschiedlichen Rationalitätstypen zu schaffen etc. bezeichnet werden könnte. Liest man hingegen vernunftkritische Texte – etwa von Stirner, Nietzsche, Horkheimer, Adorno, Foucault und Feyerabend – dann lernt man sie in unterschiedlichsten abschreckenden Gewändern kennen. Mal ist sie eine überfordernde und das endliche Subjekt überstrapazierende Vorstellung der absoluten Vernünftigkeit, mal ein Götze der Philosophen, der sie gegenüber den lebensweltlichen, sprachlichen, leiblichen und psychologischen Zusammenhängen blind mache, mal ist sie eine unreflektierte rationale Haltung, die sich ungestört in der Erkenntnistheorie und der Gesellschaft ausbreite und alles um sich herum bloß nach dem Nützlichkeitskriterium mechanisiere und instrumentalisiere. Bei Weitem nicht alles, was mit den eigentlich positiv konnotierten Begriffen Vernunft oder vernünftig bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit für uns attraktiv – das ist die grundlegende Einsicht, die uns die Kritiker seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermitteln wollen.
Wenn Herbert Schnädelbachs Diagnose stimmt, dann sind jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Zeiten der radikalen Vernunftkritik und der „Mode, die Vernunft für alles Schlimme in der Welt verantwortlich zu machen und zur Korrektur an das ‚Andere der Vernunft‘ zu erinnern“[1], vorüber. Wenn das der Fall ist, dann wollen wir nicht länger warten, um zurückzuschauen und zu prüfen, ob nicht im postmodernen Diskurs ein bedeutendes Vernunftkonzept und mit ihm ein für uns auch aktuell (immer noch) sehr relevantes Wissen komplett untergegangen ist. Weder die Kritiker noch die Rationalitätsphilosophen (wie Schnädelbach, Habermas, Apel, Welsch u. a.) gingen und gehen nämlich wirklich auf das ein, was uns im Folgenden beschäftigen wird – das Forschungsprogramm Vernunft im engeren Sinne. Mit dieser ist weder „Vernünftigkeit“ in der alltäglichen oder Hegel‘schen Bedeutung noch ein „Götze“ als ein Set von überkommenen festen Vorschriften noch ein Rationalitätstypus oder ein Kulturprodukt gemeint, sondern eine Fähigkeit, konkrete Vorstellungen zum Steuern unseres Denkens und Wollens zu erzeugen und in Anwendung zu bringen. „Kritik der instrumentellen Vernunft“, „kommunikative Rationalität“, „ideale Kommunikationsgemeinschaft“, „rationale Gerechtigkeit“ sind, wenn man diesem Forschungsprogramm folgt, Beispiele für solche anspruchsvollen Vorstellungen und Aufgaben, die entweder zum praktischen Handeln oder zum Verfassen eines philosophischen Werks dienen können und die wir später den Arten einfache praktische bzw. methodologische (architektonische) Begriffe zuordnen werden.
Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin, auf das Konzept der Vernunft im engeren Sinne, das durch die Rationalitätsphilosophie nicht völlig ersetzt werden kann, sowohl in philosophiegeschichtlicher als auch systematischer Hinsicht aufmerksam zu machen. Diesem ist der erste Teil der Arbeit gewidmet. Das Anliegen ist ferner, im zweiten Teil, dasselbe durch progressive und metaphilosophische[2] Überlegungen wieder konkurrenz- und kooperationsfähig zu machen: Es soll gezeigt werden, dass die Annahme, jeder von uns verfüge über die Vernunft im engeren Sinne und sie solle benutzt werden, begründet ist, wenn der (Mit-)Prüfende auf konkrete forschungsprogrammatische Festlegungen und Ansprüche achtet. Die Begründung scheitert dagegen, wenn diese Forderung nicht erfüllt wird. Die dahinterstehende metaphilosophische Position soll als reflektierter (auch: taktischer / raffinierter) Perspektivismus bezeichnet werden. Folgende Gedanken, Intuitionen und Thesen liegen den einzelnen Abschnitten zugrunde:
(2) Wenn Kant in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft schreibt, dass der allgemeine Begriff der Vernunft „das Vermögen der Prinzipien“ (KrV A299/B356) ist, das mit der höchsten uns möglichen (von der Erfahrung unabhängigsten) Vorstellungsart operiert, die man Vernunftbegriff oder Idee nennen kann, dann soll das energisch als eine basale Bestimmung aufgefasst werden. Nicht ohne Grund findet man auch in seinen weiteren Schriften den Ausdruck „Idee“ – man lernt dieses eine Vermögen, das nicht nur auf dem Feld der systematischen Naturerkenntnis, sondern auch in praktischer (moralischer, rechtlicher, religiöser), ästhetischer und wissenschaftsmethodologischer Hinsicht sinnvoll (nicht-transzendent) gebraucht werden kann, von verschiedenen Seiten kennen.[3] Dieser Überlegung folgend werden im ersten Abschnitt des ersten Teils der Arbeit mehrere Arten der Vernunftbegriffe in der Kantischen Philosophie unterschieden, ihre jeweiligen Funktionen für unsere Erkenntnis und unser Handeln, ihren epistemischen und ontologischen Status sowie ihnen gemäße propositionale Einstellungen untersucht, was in einer klaren und nachvollziehbaren tabellarischen Übersicht kulminieren soll. Damit soll das geleistet werden, was in der Kant-Forschung bisher vernachlässigt wurde.[4] Von zentraler Bedeutung ist dabei die These, dass die Einsicht in die Einheit der Vernunft (im konkreten Sinne: als des Vermögens der Ideen) trotz unterschiedlicher Anwendungsfelder, in denen sie tätig ist, prinzipiell möglich ist. Denn schließlich tritt sie bei Kant stets im Medium ein und derselben Vorstellungsart auf, auch wenn unter den Vernunftbegriffen unterschiedliche Reinheitsgrade bestehen (was selbst bei den transzendentalen Ideen der Fall ist).
(3) Im zweiten Abschnitt des ersten Teils wird der Intuition gefolgt, dass es kein Zufall ist, dass sowohl der frühe als auch der späte Fichte sein Grundprinzip gelegentlich als „Vernunft“ bezeichnet und von Ideen in Abgrenzung zu den Erfahrungsbegriffen des Verstandes spricht (vgl. z. B. GdgZ GA I/8 246). Es soll – teilweise im Anschluss an die bedeutenden Überlegungen von Andreas Schmidt (2004) und Jürgen Stolzenberg (2018) und (2010) – dafür argumentiert werden, dass dieselbe Vernunft im engeren Sinne, „über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird“ (KrV A298/B355), für dasjenige verantwortlich ist, was Fichte „die höchste Handlung des menschlichen Geistes“ (BWL GA I/2 141) nennt. Die Tathandlung, von der aus in der Wissenschaftslehre die übrigen für unsere objektive Erkenntnis wesentlichen Handlungen und Funktionen des Bewusstseins – von oben nach unten – abgeleitet werden, lässt sich grundlegend als ein Prozess der Bildung der Idee der reinen Vernunft von sich selbst begreifen. Wir werden anhand der Wissenschaftslehre nova methodo im Detail sehen, dass dieser Prozess vier grundlegende Momente involviert: (α) Akt (Handlung), (β) unmittelbares Bewusstsein (intellektuelle Anschauung), (γ) Produkt (Begriff, i. e. Idee) und (δ) Vermögen (i. e. der reinen Vernunft). Im Gegensatz zu Kant führt Fichte das Vernunftvermögen in seinen Werken nicht faktisch ein, sondern fordert den Leser dazu auf, sich performativ durch die Tathandlung und im begrifflichen Nachvollzug der Momente (α)–(δ) der eigenen reinen Vernunft zu vergewissern: nicht der reinen praktischen und auch nicht der reinen theoretischen, sondern der einen, für sich, vor ihrer Äußerung in unterschiedlichen Anwendungsfeldern. Während Kant diese gelegentlich und abweichend als „vernünftiges Subjekt“ (vgl. Prol AA IV 345), „Ich“ und „eigentliches Selbst“ (vgl. GMS AA IV 451, 457f.), „reine Selbsttätigkeit“ oder „reine Tätigkeit“ (vgl. GMS AA IV 451f., KrV A541/569) etc. bezeichnet, zieht Fichte oft umgekehrt die Ausdrücke wie „absolutes Ich“, „Ich“, „Intelligenz“, „reine Selbsttätigkeit“ etc. vor. Dieses führt in der Forschung neben dem Fehlen der Einsicht in die Multifunktionalität des einen Vermögens der Ideen bei Kant zu mehreren Nachteilen für das Verständnis der Wissenschaftslehre: entweder zu Missverständnissen (wie etwa, dass Fichte einen Paralogismus begehe, wenn er vom Ich spreche)[5] oder zu Unter- und Überbestimmungen seines Grundprinzips vor und nach 1800, auf die wir eingehen werden. Sehr deutlich wird es beispielsweise bei der Auffassung, der spätere Fichte greife, indem er eine Ideenlehre entwickle, auf Platon oder den Neuplatonismus zurück.[6] Stattdessen stellt die Theorie der fünf so genannten Wirkungssphären der Vernunft einen in der Philosophiegeschichte bis dato letzten Versuch dar, alle Arten der Ideen, die bei Kant vorkommen (den Ausdruck Idee übernimmt Kant von Platon als Bezeichnung für eine konkrete Vorstellungsart), systematisch und hierarchisch nach Bereichen zu ordnen, in denen sie konkrete Funktionen – die sich auch auf bestimmte Wissenschaften erstrecken – erfüllen. Diesen werden wir uns abschließend ansehen.
(4)-(6) Die ersten drei Abschnitte des zweiten Teils dienen dazu, das am Leitfaden der Vorstellungsart Idee aus Kants und Fichtes Schriften gewonnene Vernunftkonzept einerseits von der Rationalitätsphilosophie und andererseits von der Hegel‘schen absoluten Idee, von der er schreibt, dies sei die „eigentliche philosophische Bedeutung für Vernunft“ (Enz I W 8 370), abzugrenzen. Dabei stellen wir die starke (u. a. von Habermas, Schnädelbach und Apel vertretene) rationalitätsphilosophische These infrage, nach welcher die Philosophiegeschichte als eine Abfolge von einander ablösenden Paradigmen zu begreifen wäre, die zu solchen Ansichten führt, wie:
Demgegenüber soll geltend gemacht werden, dass die Übernahme und Verwendung des Kuhn‘schen Begriffs Paradigma in Bezug auf philosophische Konzeptionen keineswegs unproblematisch ist und im Lichte der weiteren Entwicklungen in der Wissenschaftstheorie kritisch hinterfragt werden muss – insbesondere vor dem Hintergrund der einleuchtenden Einwände von Imre Lakatos und Kuhns eigenen späteren Korrekturen an seiner Theorie.[9] Es wird die These vertreten, dass es angesichts der tatsächlichen Situation in der philosophischen Forschungslandschaft (der Pluralität der Denkrichtungen, -gegenstände, Schwerpunkte, Forschungsprojekte, stattfindenden Kongresse und Konferenzen etc.) angemessener und gerechter ist, nicht von aufeinanderfolgenden Paradigmen zu sprechen, über die stets ein weitestgehender Konsens bestünde, sondern – im Anschluss an Lakatos – von einer Vielzahl miteinander konkurrierender und kooperierender Forschungsprogramme (Schulen, Richtungen, Theorienreihen).[10] So wie sich hinter den Begriffen Rationalität, kommunikative Vernunft und absolute Idee konkrete Forschungsprogramme verbergen, die sich aus festen Grundannahmen (harter Kern), mit ihnen zusammenhängenden und modifizierbaren Thesen und Bedingungen (Schutzgürtel), Regeln zum Schutz (negative Heuristik) und zur Weiterentwicklung (positive Heuristik) zusammensetzen, ist auch die Vernunft im engeren Sinne ein Projekt unter anderen, das in einen bestimmten forschungsprogrammatischen Kontext eingebettet ist.[11] Nach der von Lakatos freigelegten und vorgeschlagenen Logik der Forschung entscheidet nun weder allein ein Faktum noch ein schlagendes Argument noch eine Gruppe von Forschern, was zu gelten hat, sondern ein freier Wettbewerb – die Vertreter einer Richtung oder Interessierte an einem Forschungsgegenstand dürfen jederzeit selbst ein komplett stillstehendes und vergessenes Programm durch progressive theoretische Problemverschiebungen, Entdeckungen und Impulse wieder konkurrenz- und kooperationsfähig machen: „The direction of science is determined primarily by human creative imagination and not by the universe of facts which surrounds us.“[12]
Unsere systematische Darstellung der Vernunftfunktionen bei Kant und Fichte ist angesichts der radikalen Vernunftkritik in der Postmoderne, der Ansprüche hinter den rationalitäts-, sprach- und kommunikationsphilosophischen Überlegungen sowie des fehlenden allgemeinen Diskurses über unser Vermögen, reine Vorstellungen zum Steuern des Erkennens und Wollens zu erzeugen und in Anwendung zu bringen, ein Versuch, ein degenerierendes Forschungsprogramm – und damit ein Wissen, das droht verlorenzugehen, – zu retten. Dieser ist durch zahlreiche kreative Strategien ergänzbar, z. B. durch
Zu zeigen, dass die Vernunft, so wie im ersten Teil dargestellt, ist und sein soll, bedeutet also einen Impuls zur progressiven Weiterentwicklung der Theorienreihe zum Vermögen der Ideen zu geben. Unter Begründung soll im Rahmen konkreter metaphilosophischer Überlegungen das Vorgehen verstanden werden, auf mögliche Kritik ex ante und ex post zu antworten. So wie ein naturwissenschaftliches Forschungsprogramm in einem „Ozean von Anomalien“[13] (von Fakten, Gegenbeispielen, konkurrierenden Auffassungen und Erklärungen) aufwächst, muss sich ein Autor oder Vertreter einer philosophischen Position permanent mit einer Vielzahl von „Anomalien“ konfrontiert sehen, die sich in der Philosophie eher in Form von Kritik (Hinweise auf logische Inkonsistenzen, Gegenpositionen etc.) bemerkbar machen. Diese kann zwar (ex ante) bis zu einem bestimmten Grad vorhergesehen werden, aber nicht immer. Es wird im Zusammenhang damit die These vertreten werden, dass Begründung und Kritik komplementäre Begriffe sind – und zwar so, dass einem jeden Vernunftkonzept (wie rationale Haltung, kommunikative Vernunft, Vernünftigkeit, Vernunft im engeren Sinne) konkrete Kritik wie ein Schatten dem Gegenstande und seiner Gestalt folgt.[14] Die Interessierten an dem Projekt „Vernunft im engeren Sinne“ müssen mit folgenden Grundannahmen arbeiten und rechnen:
Vernunft im engeren Sinne |
|
(A) (1) ist (2) soll sein |
(B) (1) ist nicht (2) soll nicht sein |
Die Position (B) erscheint in der Philosophiegeschichte oft in Form der Behauptung, (1) die Fähigkeit, Ideen zu erzeugen und anzuwenden, sei eine bloße Einbildung (entweder eine leere Fiktion oder lediglich ein Interpretationskonstrukt), die zudem (2) unattraktiv sei, weil sie mehrere negative Folgen – etwa einen ungesunden Herrschaftswillen, die Vernachlässigung der Sinnenwelt, der Rolle der Sprache, des Mitmenschen etc. – mit sich bringe.[15] Von Kant und Fichte (A) lernen wir hingegen u. a. (1), dass sie (a) eine Kraft ist, dank derer wir uns als der Freiheit fähige Wesen begreifen können und die tatsächlich beispielsweise im kategorischen Imperativ oder in der Bildung der regulativen Idee der Unendlichkeit der Welt und der Maxime, immer bessere Teleskope und Raumsonden zur kontinuierlichen Erforschung des Weltalls zu bauen oder in der Tathandlung erscheint. Ferner, dass sie (b) kein von der Gesamtheit der Bedingungen, unter denen sie sich äußert (Gesetzmäßigkeiten, übrige Vermögen, Sprache, Logik, sinnliche Erscheinungen, Leib (bei Fichte) etc.), komplett losgelöstes Etwas ist, sondern in dieselbe systematisch-kohärent eingebettet ist. (2) Auch lernen wir dank der Fichte‘schen Theorie der Weltansichten, dass die lebens- und alltagsweltliche starke Zuneigung etwa zu sinnlichen Genussformen einschließlich des vielfältigen Interesses an Mitmenschen (das angeblich ausgestoßene Andere) geradezu die Voraussetzung dafür ist, dass das Sein-Sollen der Vernunft (und der Ideen) erkannt wird. Das geschieht nämlich nur in solchen Fällen der emotionalen Bindung oder der Integriertheit in das Leben (die sich auch im starken Interesse am Rechtlichen und Politischen, Moralischen, an der Kunst, Religion oder an Wissenschaften zeigen kann) – fehlt diese, dann werden nicht genug geistige Kräfte mobilisiert, um einzusehen, was die Vernunft im engeren Sinne immer schon leistet und weiterhin leisten soll.[16]
(7)-(9) In den letzten drei Abschnitten des zweiten Teils soll im Rückgriff auf diese drei gewählten Möglichkeiten, für die Annahmen auf der (A)-Seite zu argumentieren, auf teilweise kluge und ernstzunehmende radikal-kritische Strategien der Befürworter der Gegenposition (B) geantwortet werden. Diese können sich nämlich einerseits auf die fünf Tropen (Argumente / Denkmuster) des Agrippa und andererseits auf die Topoi (Gesichtspunkte) der Vernunftkritik stützen, die sich insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben.[17] Die Tropen wurden u. a. im Diskurs um den kritischen Rationalismus von Hans Albert dazu benutzt, jegliche Ansprüche auf sicheres infallibles Wissen zurückzuweisen.[18] Jede starke Annahme (x1), insbesondere wenn sie vom Erkenntniskontext losgelöst und als absolut wahr postuliert wird, ist entweder eine dogmatische Voraussetzung oder sie wird durch eine weitere Annahme (x2) begründet, die wiederum durch (x1) (Zirkel) oder durch (x3), welche wiederum durch (x4) etc. (infiniter Regress) erklärt wird. Diese als Münchhausen-Trilemma bekannte Denkfigur stellt allerdings eine Reduktion des Agrippa-Pentalemmas dar, welches auch die kraftvollen Relativismus– und Dissenseinwände enthält. Selbst wenn jemand behauptet, sich aus dem Begründungstrilemma gerettet zu haben, kann seine Position immer noch destruiert werden, indem gezeigt wird, dass sie relativ in Bezug auf seine Person, sein Interesse, seinen Wissenshorizont etc. ist und dass kein Konsens in Betreff eines Gegenstandes besteht.
Gerade die letztgenannten Tropen sollten aber – so die Position, die vor diesem Hintergrund entwickelt werden wird – der zentrale Ausgangspunkt der Überlegungen zur philosophischen Begründung und Kritik sein.[19] Und zwar so, dass das Denken der Relativität und des Dissenses nicht an einem bestimmten Punkt abgebrochen, sondern auf seinen Höhepunkt getrieben wird. Abgebrochen wird es, wenn beispielsweise behauptet wird:
Alle diese und ähnliche Aussagen sind endgültige philosophische Reaktionen auf den Umstand, dass es Multiperspektivität gibt. Wir wollen uns hingegen auf einen metaphilosophischen Standpunkt stellen, von dem aus selbst diese Positionen als relativ erscheinen, und zwar auf (a) forschungsprogrammatische Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele der Forschenden. Auf diese Elemente sind sowohl die unterschiedlichen Vernunftkonzepte als auch die Positionen der Vernunftkritiker zurückzuführen.[20]
Mit der Einnahme dieses Standpunktes (des reflektierten Perspektivismus) wird es möglich sein, sich von der Ansicht zu distanzieren, die Begründung von etwas könne allein durch ein schlagendes Argument, einen logischen Schluss, eine tiefe Einsicht etc. bewerkstelligt werden, ohne die Bedingungen zu untersuchen, unter denen sie gelingen kann. Das Problem der Begründung der Vernunft im engeren Sinne im Ausgang von Kant und Fichte muss angesichts der Pluralität der Denkrichtungen und Standpunkte in der Philosophie die Frage nach den näheren Bedingungen ihrer Möglichkeit einschließen. Diese liegt nämlich nur dann vor, wenn der Prüfende zumindest ähnliche (a) forschungsprogrammatische Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele vertritt. Eine selbst noch so perfekte Begründungsstrategie scheitert hingegen, wenn sie bei ihm anders sind, wenn er sie missversteht oder bewusst bzw. fahrlässig verdreht oder durch eigene ersetzt.[21]
Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche (Anforderungen) an uns selbst, an andere, an die Gesellschaft, an den Staat, an die Wissenschaft, an ein Forschungsprogramm, an eine Theorie etc. begegnet uns überall. Sichtbar wird es besonders beim Auftreten von intra- und interpersonellen Konflikten, z. B. wenn konkrete Ansprüche zu hoch angesetzt sind und als Zwang bzw. zu niedrig und als Wertverlust empfunden werden. Ein Theaterstück, das auf einem klassischen Werk basiert, aber zahlreiche triviale und popkulturelle Elemente enthält, können die einen als gelungen, die anderen als anspruchslos und als ihren Zielen und Interessen unangemessen bewerten. Das Problem der unterschiedlichen Ansprüche ist in der Philosophie etwas Bekanntes. So schreibt Kant in der Vorrede zu den Prolegomena, dass zwar nicht jedermann Metaphysik studieren müsse, dass aber „derjenige, der Metaphysik zu beurteilen, ja selbst eine abzufassen unternimmt, den Forderungen, die […] gemacht werden, durchaus ein Genüge tun müsse [hervorgehoben von M. L.]“ (Prol AA IV 263f.). So spricht Fichte von „sehr gegründeten Anforderungen der Skeptiker“ und „streitenden Ansprüchen“ (BWL GA I/2 109) in der Philosophie, die prinzipiell miteinander vermittelbar sind, am Anfang seiner programmatischen Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre. Habermas erkennt, dass die Dekonstruktivisten der Strategie folgen, philosophische Texte als literarische zu behandeln und somit die logischen Konsistenzforderungen ihrer Autoren „anderen Forderungen, z. B. solchen ästhetischer Art“[22] nachzuordnen und dadurch einen Weg finden, Kritik an ihnen zu üben. Albert will die „Ansprüche der Transzendentalpragmatik“[23] zurückweisen, die er aufgrund seiner forschungsprogrammatischen Festlegungen, durch die die Möglichkeit einer Letztbegründung prinzipiell infrage gestellt wird, nicht teilen kann.
Die Unterschiede in (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen und (b) Ansprüchen sind etwas Bekanntes, Gewöhnliches – sie gehören zur philosophischen Praxis dazu, über sie wird jedoch nicht explizit nachgedacht (das Bekannte ist eben darum, wie Hegel treffend sagt, weil es bekannt ist, nicht erkannt (vgl. PhG W 3 28)). Von dem metaphilosophischen Standpunkt des reflektierten Perspektivismus aus werden wir grundlegende Probleme bemerken, die sonst nicht sichtbar geworden wären.[24] Dazu gehören v. a. die Tendenzen, (a) und (b) unzulässigerweise über ihre Grenzen hinaus zu verabsolutieren. Dies ist insofern problematisch, als mit ihnen stets konkrete (c) Wissensziele anvisiert sind, die sehr unterschiedlich sein können. Nicht ein jedes Set von Anforderungen und Festlegungen führt zum Wissen von der Vernunft im engeren Sinne – und nicht jedes muss es. Es sollte daher Regeln für einen rational gerechten Umgang mit abweichenden Ansprüchen in Konkurrenz- und Kooperationsverhältnissen zwischen unterschiedlichen Forschungsprogrammen bzw. einzelnen philosophischen Positionierungen geben.[25] Aus dieser Sicht werden sowohl die (8) Begründungsstrategien und Tropen als auch die (9) Topoi der radikalen Vernunftkritik beleuchtet. Im Ergebnis soll festgestellt werden, dass es sich beim Vermögen der Ideen um ein Wissensziel handelt, das forschungsprogrammatisch und anspruchslogisch zutiefst fundiert ist – es muss also aus guten Gründen als konkurrenz- und kooperationsfähig anerkannt werden.
Die beiden genannten Ziele der Untersuchung, die Multifunktionalität und die Einheit der Vernunft im engeren Sinne zu begreifen (erster Teil) und sie als ein wohlbegründetes Forschungsprogramm auszuweisen (zweiter Teil), sind nur unter der Befolgung einer ihnen angemessenen Methode erreichbar. Sie besteht in der systematischen problemorientierten (Re-)Konstruktion und Beurteilung der Theorien und Argumente. Bei einer rein philologischen Exegese, wie etwa bei Kommentaren zu philosophischen Werken, werden schwerpunktmäßig Probleme im Zusammenhang mit der Entstehung, dem Verständnis und den Lesarten der Texte gelöst. Bei einer systematischen problemorientierten (Re-)Konstruktion der Theorien und Argumente spielen sie eine wichtige, aber hintergründige Rolle. Die tiefe textanalytische Arbeit wird als zum größten Teil geleistet vorausgesetzt und philologische Fragestellungen tauchen eher am Rande auf. Vor den Augen der Leserinnen und Leser werden die Form und der Gehalt der Theorien und Argumente aufgearbeitet, insofern sie zur Lösung eines philosophischen Problems im eigentlichen Sinne beitragen. Bei dem ersten Teil der Arbeit besteht es darin, die Multifunktionalität und die Einheit eines Vermögens, das mit Ideen operiert, sowohl für sich als auch gleichzeitig zu denken – in der systematischen (Re-)Konstruktion des Konzeptes Vernunft im engeren Sinne. Bei Kant und Fichte findet man verschiedene Arten von Ideen, die unter eine Gattung fallen und die von einer Vernunft zur Leitung des Willens und des Verstandes verwendet werden. Die Ideenlehre ist, wie übrigens auch bei Platon, nicht in einem einzigen Text enthalten, den man nur (mit Berücksichtigung anderer Werke) kommentieren müsste, sondern über das Gesamtwerk von Kant bzw. Fichte verstreut. Man ist somit auf eine systematische und einheitliche Rekonstruktion der Theorien und Argumente in Bezug auf die Vernunft im engeren Sinne sowie auf die entsprechende Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur – die in dieser Arbeit immer in den Fußnoten stattfindet – angewiesen, in der sie ähnlich oder anders ausfällt. Es ist selbstverständlich, dass ein solches Wissensziel, die ganze Breite der Theorienreihe zur Vernunft im engeren Sinne zu erkennen und sie trotz dieser Breite und Ausdifferenzierung als ein einheitliches Forschungsprogramm zu begreifen, nur unter der Bedingung der Konzentration auf das, was der Autor als das Wesentliche bestimmt, erreichbar ist. Bei dem zweiten Teil besteht das Problem darin, dass es einerseits unterschiedliche Vernunftkonzepte und andererseits radikale Vernunftkritik gibt – die Frage ist also, wie sich die Vernunft im engeren Sinne als ein Forschungsprogramm inmitten der basalen und radikalen Kritik in zeitgenössischen Kontexten bewährt. Das fällt als ein philosophisches Problem erst dann auf, wenn man, wie man sagt, „über den eigenen Tellerrand hinausschaut“. Hier hilft eine rein philologische Exegese auch nicht weiter, sondern eine Orientierung in der Vielzahl philosophischer Positionierungen, der Begründungs- und Kritikmöglichkeiten im Hinblick auf die Vernunft tim engeren Sinne und der Bedingungen, unter denen sie gelten, durch systematische metaphilosophische (Re-)Konstruktion und Beurteilung der Argumente und Gegenargumente.
Die Leserinnen und Leser der vorliegenden Untersuchung haben einen doppelten Vorteil. Einerseits werden sie über Vernunft als den Schlüsselbegriff der klassischen deutschen Philosophie umfassend informiert, zu dessen Erklärung zahlreiche Schriften und mehrere zentrale Theorien von Kant und Fichte (sowie Hegel) angesprochen werden. Andererseits, und am Beispiel der Vernunft im engeren Sinne, lernen sie eine Möglichkeit kennen, wie man ein wertvolles philosophisches Forschungsprogramm in Schutz nehmen und systematisch weiterentwickeln kann. Das schließt die Beantwortung der Frage in sich ein, wie ein rational gerechter Umgang mit der Vielfalt der Perspektiven und Positionierungen in- und außerhalb der Philosophie möglich ist.
[1] Schnädelbach 2007: 7. „Unser Zeitgeist ist der Vernunft nicht wohlgesonnen. […] Allenfalls von Rationalität, keinesfalls von Vernunft soll noch die Rede sein dürfen. ‚Farewell to Reason‘ ist ein Motto der Zeit“ schreibt noch Wolfgang Welsch 1996b: 139.
[2] Unter „metaphilosophisch“ ist hier wie im Folgenden „die Logik der philosophischen Forschung betreffend“ zu verstehen. Es wird dabei der richtungsweisenden Gegenstandsbereich-Definition von Geldsetzer (1989) gefolgt: So wie die Natur, Moral, Religion etc. Gegenstände der Philosophie sind, kann die Philosophie selbst zum Gegenstand des Philosophierens werden. Dabei muss man nicht unbedingt einem höherstufigen Reflexionsmodell (einer scheinbar paradoxen Situation einer Philosophie jenseits der Philosophie) anhängen – darauf weisen etwa Richard Raatzsch (2014) und Brendan Theunissen (2014) hin (vgl. auch die Rezension Lewin (2020d), bei der das Problem der philosophischen Vorbelastetheit metaphilosophischer Theorien angesprochen wird). Die Metaphilosophie ist ein junges, in der Philosophiegeschichte aber schon mehrfach vorweggenommenes Forschungsgebiet, das die Philosophie als solche, ihre Ziele, Bereiche, Aufgaben, Methoden etc. in ihrer ganzen aktuellen und historischen Vielfalt (sowie insbesondere die sich aus dieser Vielfalt ergebenden Probleme, Lösungen und Orientierungsmöglichkeiten) explizit zum Gegenstand macht. Sie zielt u. a. auf besseres Verständnis der Philosophie und Steigerung der Qualität der philosophischen Forschung durch bewusste Entwicklung, Offenlegung und Hinterfragung metaphilosophischer Hintergrundannahmen und Modelle ab. Uns wird es im zweiten Teil um die perspektivistische forschungsprogrammatische und anspruchslogische Beleuchtung des philosophischen Forschens gehen, und zwar zum übergeordneten Zweck der Prüfung, inwieweit die Vernunft im engeren Sinne begründbar und begründet ist. Es wird sich in diesem Rahmen eine bestimmte Position abzeichnen, die man als systematisch-metaphilosophisch bezeichnen könnte und die in dieser Untersuchung nur so weit wie nötig entwickelt wird. Zur Einführung in den allgemeinen aktuellen metaphilosophischen Diskurs vgl. Theunissen (2014) und Lewin (2020d), Rescher (2014) und (2006), Plant (2017) und (2012) und Overgaard/Gilbert/Burwood (2013).
[3] Im Hinblick auf die transzendentale Dialektik sind für uns u. a. die (aktuelleren) Arbeiten von Bunte (2016), Pissis (2012) und Klimmek (2005) relevant. Auf den erst vor Kurzem erschienenen Forschungsbeitrag zum Anhang zur transzendentalen Dialektik von Rudolf Meer (2019) sowie auf Marcus Willascheks (2018) rationalitätstheoretische Rekonstruktion der transzendentalen Dialektik konnte leider nicht im Detail eingegangen werden – vgl. aber die Rezensionen zu den beiden Büchern in Lewin (2020a) und (2020b). Auf die unterschiedlichen Arten der Ideen bei Kant machen Karásek, Timmermann und Fricke im Rahmen ihrer Beiträge für das von Willaschek, Stolzenberg u. a. herausgegebene dreibändige Kant-Lexikon (2015) aufmerksam. Eine der ersten Unterscheidungen findet sich im Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften von C.C.E. Schmid 1798: 322ff. Anregend sind für uns ferner die Überlegungen von Peter König (1994) zum allgemeinen Begriff der Idee in Kants Schriften und zum Prozess der Erzeugung der Idee vom reinen Willen. Jürgen Habermas interessiert sich für die Möglichkeit einer „detranszendentalisierten“ Verwendung der Kantischen Ideen (im Rahmen des kommunikativen Handelns), bezieht sich allerdings nur auf die kosmologischen Ideen und das Postulat der Freiheit – vgl. 2001: 13f.
[4] Susan Neiman schreibt dazu: „Most readers of the Critique of Pure Reason have focused on its first two hundred pages, dismissing the ‘Dialektik,’ whose subject is reason, as an elaboration of the positive doctrines of the ‘Analytic,’ which is of little concern to any but those with an interest in the details of the destruction of scholastic metaphysics. Readers of Kant’s works as a whole have tended to treat his ethics separately from his metaphysics, with little systematic probing of their mutual dependence“ (Neiman 1994: 3). Die transzendentale Dialektik und die allgemeine Kantische Ideenlehre gerieten zwar in den letzten Jahrzehnten u. a. dank der in der obigen Fußnote genannten Arbeiten zunehmend ins Visier der Forschung, die ganze breite Konzeption und Funktionalität der Ideen, mit denen die Vernunft im engeren Sinne operiert und die nicht nur der Gegenstand der Kritik der reinen Vernunft ist, war noch kein Gegenstand einer systematischen Untersuchung (vgl. auch die Fußnote 68). Das wirkt sich entsprechend auf die Literatur zum Problem der Einheit der Vernunft bei Kant aus – vgl. die kritischen Bemerkungen dazu in den Fußnoten unter Punkt 2.3.2 – und hat Nachwirkungen auf die Fichte- und Hegel-Forschung.
[5] Vgl. Moskopp 2009: 16 und 81f.
[6] Vgl. etwa Asmuth (2003) und (2006) sowie Rampazzo Bazzan (2009) und die Aufsätze in Mojsisch/Summerell (2003).
[7] Schnädelbach 2007: 138.
[8] Habermas 1988: 345.
[9] Man kann den Begriff Paradigma auch für unsere Zwecke, eine Möglichkeit für die Orientierung und für einen gerechten Umgang mit der Vielfalt der Perspektiven in der Philosophie zu finden, benutzen. Wolfgang Welschs Vorschlag, darunter eher die „disziplinäre Matrix“ im Sinne des späteren Kuhns, und nicht eine bedeutende beispielgebende Leistung eines Wissenschaftlers (oder einer Gruppe von Forschern) zu verstehen, die zur Bildung einer vorherrschenden Richtung (mit konkreten Ansichten, Methoden und Regeln) in der Wissenschaft führt, ist eine mögliche Alternative für unsere Auffassung. Unter einem Paradigma versteht Welsch (vgl. 1996a: 543ff.), diesen Begriff explizit modifizierend, die rationale Struktur einer Konzeption. Die Paradigmen treten nicht nur nacheinander (diachron), sondern auch nebeneinander (synchron) auf, und zwar nicht nur in einer vorparadigmatischen Phase wie bei Kuhn in der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962, vgl. unten 3.2). Wir werden sehen, dass der von Imre Lakatos (vgl. (1968) und (1978)) in den wissenschaftstheoretischen Diskurs eingeführte Begriff Forschungsprogramm uns im Vorhinein erlaubt, die Pluralität, Simultaneität und konkrete interne rationale Strukturen der Forschungsrichtungen zu denken.
[10] Von Lakatos‘ Theorie konnten bisher Religions- (vgl. z. B. Nancey Murphy (1999) – vgl. dazu die Stellungnahmen von Reeves (2011) und Russel (2017)), Literatur- (vgl. z. B. Suzanne Black (2003)) und Wirtschaftswissenschaftler (vgl. z. B. Roger E. Backhouse (1998)) profitieren.
[11] Wir werden sehen, dass die Vernunft im engeren Sinne ein partielles Forschungsprogramm ist, das bei Kant und Fichte innerhalb der transzendentalen Bewusstseinsphilosophie bzw. der kritischen Metaphysik (des Mentalen) behandelt wird.
[12] Lakatos 1978: 99.
[13] Vgl. ebd. 6 und 48ff. “When Newton published his Principia, it was common knowledge that it could not properly explain even the motion of the moon; in fact, lunar motion refuted Newton. Kaufmann, a distinguished physicist, refuted Einstein’s relativity theory in the very year it was published” (ebd. 5).
[14] Wir werden an entsprechender Stelle mehrere Formen der Kritik unterscheiden. Uns wird insbesondere die radikale interessieren.
[15] Dass die reine Vernunft eingebildet sei, hat schon Garve in seiner Rezension zur Kritik der reinen Vernunft behauptet (vgl. Garve 1782: 189), die er zu diesem Zeitpunkt, wie er später gegenüber Kant offen zugeben wird, nicht wirklich genau gelesen hat. Fichtes Zeitgenossen sollen geglaubt haben, die Vernunft und die Ideen seien eine pure Erfindung der Philosophen (vgl. GdgZ GA I/8 216f.). Für Hans Lenk, auf dessen Position wir genauer eingehen werden, ist sie ein bloßes Interpretationskonstrukt (vgl. Lenk 1986b: 266f.) und nach Hans Albert als reine Vernunft schlechthin nicht-existent (vgl. Albert 1968: 109).
[16] Fichtes Theorie der Weltansichten wurde in der Forschung in den letzten Jahrzehnten zwar neuentdeckt (vgl. beispielsweise den Kommentar von Seyler (2014) sowie Adolphi (2003) und Traub (1995)), ihr volles Potential, insbesondere die Fünfundzwanzigkeit der Perspektiven, die wir uns ansehen werden und auf der eine praktische Begründungsstrategie der Vernunft basieren kann, wurde noch nicht ausgeschöpft.
[17] Die Topoi der radikalen Vernunftkritik haben u. a. Jürgen Habermas (1988), Wolfgang Welsch (1996a) und Karen Gloy (2001) kritisch aufgearbeitet. Die anspruchslogische Perspektive wird die Problematik dahinter jedoch im neuen Licht erscheinen lassen.
[18] Vgl. Albert 1968: 13ff.
[19] Sie liegen selbst den Topoi der radikalen Vernunftkritik zugrunde, bei denen stets auf das der Vernunft Entgegengesetzte, scheinbar Attraktivere oder Ausgestoßene verwiesen wird. Der Relativismuseinwand verhielt sich zu den früheren 10 Tropen der antiken Skeptiker (das Agrippa-Pentalemma kam später als eine zusätzliche Möglichkeit der Kritik dazu, ohne sie zu ersetzen) wie die Gattung zu Unterarten (die 10 Tropen resultierten aus der Beachtung der Unterschiede zwischen den Lebewesen, Menschen, Sinnesorganen, Stellungen, Lebensweisen, Sitten etc.) – vgl. Sextus Empiricus: Grundriss 102ff.
[20] Der hiermit vertretene metaphilosophische und rein methodologische Relativismus ist nicht mit einer Folgerungsposition aus dem Relativismus zu verwechseln. Es wird nicht behauptet, dass A der Fall oder nicht der Fall ist, allein weil es von bestimmten Faktoren oder Hintergrundbedingungen abhängig ist, sondern: „A ist genau dann der Fall, wenn (a), (b) und (c). Gelten (a), (b) und (c), dann gilt auch A.“ Mehr dazu unter (7).
[21] Sowohl das Bewusstsein, die Denkfunktionen und -gesetze als auch die Sprache und die (ideal-reale) Kommunikationsgemeinschaft (ferner: der Leib, die Gefühle, die Logik, die Natur etc.) sind genauso Bedingungen einer Begründung überhaupt. Die näheren aber sind die Beachtung und die Akzeptanz der konkreten (a) forschungsprogrammatischen Festlegungen, (b) Ansprüche und (c) Wissensziele. Weder ein Vernunftvermögen (rein formal gesehen) noch eine Gemeinschaft von Sprechern garantieren allein den Erfolg einer Begründungsstrategie von Normen und Regeln oder von einer Theorie.
[22] Habermas 1988: 222.
[23] Albert 1982: 58.
[24] Nach den Überlegungen von Friedrich Kaulbach sei dasjenige Denken und diejenige Philosophie als „perspektivistisch“ zu bezeichnen, zu deren zentralem Vokabular die Begriffe wie Haltung, Stellung, Standpunkt, Perspektive, Übergang von einer Perspektive zu einer höheren etc. gehören (vgl. Kaulbach 1990: 2). In seinem ersten Teil der Philosophie des Perspektivismus ging er den Elementen des perspektivistischen Denkens bei Kant, Hegel und Nietzsche nach. Den zweiten Teil, in dem es um eine systematisch aufgebaute Theorie des Perspektivismus gehen sollte, konnte er nicht mehr fertigstellen. Unsere metaphilosophische Position des reflektierten Perspektivismus kann man als einen Beitrag zu dieser bedeutenden Denkrichtung verstehen, zu der bis dato ein Forschungsinteresse in- und außerhalb der Philosophie besteht. Im aktuell erschienenen Sammelband von Hartmut von Sass (2019) findet man Beiträge von unterschiedlichen Autoren zum epistemischen, hermeneutischen und ethischen Perspektivismus – vgl. die Rezension Lewin (2021). In der vorliegenden Studie wird es sich um den metaphilosophischen Perspektivismus handeln.
[25] Wolfgang Welsch erkennt zu Recht, dass wir angesichts der Pluralität der philosophischen Standpunkte einer „Idee der rationalen Gerechtigkeit“ (Welsch 1996b: 154, vgl. 1996a: 698ff.) bedürfen. Wir schließen uns ihm an, und zwar aus der Perspektive des Forschungsprogramms Vernunft (im engeren Sinne), dass es eben eine „Idee“ (einfache praktische / methodologische), ein Vernunftbegriff ist, den wir bilden und anderen mitteilen wollen.