Lewin, M. 2021. Rudolf Meer, Der transzendentale Grundsatz der Vernunft. Funktion und Struktur des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2019, 314 S., Archiv für Geschichte der Philosophie 103/3, 562-570. https://doi.org/10.1515/agph-2021-2020.

 

1 Einleitung

 

Es gehört zum philosophischen Allgemeinwissen, dass Kant mit der Kritik der reinen Vernunft die Ansprüche der traditionellen Metaphysiker auf hyperphysische Erkenntnismöglichkeit der Seele (hinsichtlich ihrer Beschaffenheit an sich), der Welt (in Bezug auf solche Fragen, wie: ob sie einen absoluten Anfang habe, ob die Dinge ins Unendliche teilbar seien etc.) und des Daseins Gottes zurückweisen wollte. Was jedoch weniger bekannt ist, ist der Umstand, dass in der Transzendentalen Dialektik ein Grundstein zu einer positiven Theorie der reinen Vernunft gelegt wird, die in den nachfolgenden Werken weiter ausgebaut wird. Die Vernunft produziert nämlich – ihrem Grundsatz folgend, zu jedem Bedingten des Verstandes ein Unbedingtes zu finden (vgl. KrV, A 307 / B 364), – Ideen, die, was die theoretische Philosophie Kants betrifft, nicht nur einen im Rahmen der Kritik zu durchschauenden transzendentalen Schein wirklicher Erkenntnisse mit sich bringen, sondern in einem bestimmten erlaubten Sinne auch auf mögliche Erfahrung angewandt werden können, und zwar als regulative Prinzipien einer auf systematische Vollständigkeit ausgerichteten Naturerkenntnis. Aus diesem Grund scheint es legitim zu sein, diesen Grundsatz als einen transzendentalen aufzufassen, insofern als das Bestreben der Vernunft, das Unbedingte zu finden, letztlich auch zu einem erkenntnisimmanenten und gewinnbringenden Gebrauch des Gefundenen führen kann, wie der Haupttitel der Arbeit von Rudolf Meer suggeriert. Die Frage, ob die Ideen bloße nutzlose transzendente Konstrukte sind, oder ob sie etwas leisten und unsere Erkenntnis (zumindest teilweise) objektiv bedingen können, mit anderen Worten: ob der Grundsatz transzendent oder transzendental ist, ist am Anfang der Transzendentalen Dialektik noch unentschieden. Die endgültige Antwort findet sich erst im Anhang zur Transzendentalen Dialektik. Will man sie finden und tiefgründig begreifen, dann ist dieser Textabschnitt nicht dezentral zu lesen, sondern als Basis und Ausgangspunkt einer detaillierten systematischen Analyse zu wählen, die, wie der Autor nach einem Überblick über bisherige einschlägige Forschungsbeiträge feststellt, bisher noch ausblieb (3-8). Im Folgenden sollen (2) die wesentlichen Argumentationsschritte und die Stärken der Arbeit dargestellt werden. Im Anschluss werden (3) einige Punkte, die diskutabel sind, angesprochen, bevor (4) ein Gesamturteil getroffen wird.

 

2 Zentrale Argumentationsschritte

 

Meers Grundthese besteht darin, dass der Grundsatz der Vernunft, zum Bedingten Unbedingtes zu finden, eine Doppelfunktion erfülle (9 ff. und 215 ff.). Zum einen führe er dazu, dass die transzendentalen Ideen als reine Vorstellungen von unerkennbaren Gegenständen (rational-psychologischer, -kosmologischer und -theologischer Art) überhaupt gebildet werden. Zum anderen bemühe sich die Vernunft darum, mithilfe dieser Vorstellungen die Verstandeserkenntnisse zu systematischen Einheiten zu ordnen. Sie befrage die Erfahrungsmannigfaltigkeit (das Bedingte), nach Ideen (das Unbedingte). Man kann diese zwei Seiten des Grundsatzes vielleicht auch so ausdrücken: Das Finden von X durch Vernunftschlüsse außerhalb der Erfahrung (1) verkehrt sich zum Suchen nach dem gefundenen X innerhalb derselben (2) – in beiden Fällen wird dem Grundsatz folgend das Bedingte auf ein Unbedingtes bezogen (bei (1) aufsteigend, bei (2) absteigend). Aufgrund dieser Doppelfunktion darf er als ein transzendentaler verstanden werden.

     Wie das im Detail funktioniert, zeigt der Autor in fünf Kapiteln, die drei Teilen untergeordnet sind (Problemfeld, Analysen und Fallbeispiele). Um seine Grundergebnisse und Argumentationsschritte zu veranschaulichen, verwendet er in jedem Abschnitt seiner Arbeit eine Spiegelmetapher, die von Kant in Bezug auf ein Beispiel aus Newtons Opticks zu Anfang des Anhangs zur transzendentalen Dialektik eingeführt wird.

 

2.1 Die Spiegelmetapher (Stichpunkt: focus imaginarius)

 

Hält eine Person ein Spiegel in der Hand, dann sieht sie in ihm (a) Gegenstände, die in ihrem Rücken liegen – etwa die Bäume, den blauen Himmel und die vorbeiziehenden Wolken. Nun könnte bei ihr zumindest für einen flüchtigen Augenblick (b) eine Illusion vorkommen, als ob sich diese Gegenstände eigentlich (c) vor ihr, d. h. hinter der Spiegelfläche, befänden. Benutzt man dieses Beispiel für eine Wahrnehmungstäuschung als eine Metapher im Rahmen der transzendentalen Dialektik, dann sind die Elemente (a)-(c) wie folgt zu verstehen: Unter (a) sind die Gegenstände möglicher Erfahrung gemeint (das Bedingte), unter (c) die angeblich erkannten Dinge an sich (das Unbedingte, die Ideen) und unter (b) der transzendentale Schein. Die für uns – wie Meer unter Berufung auf entsprechende Stellen bei Kant zurecht mehrfach unterstreicht (2, 41 und insbesondere 129 ff.) – (b) natürliche und unentbehrliche Täuschung besteht nun darin, dass wir vermeinen, (c) die Gegenstände hinter der Spiegelfläche seien für das konkrete Bild, das wir im Spiegel sehen, verantwortlich: als wäre es direkt aus ihnen „ausgeflossen“. Tatsächlich ist es aber genau umgekehrt, die (a) Erfahrungsgegenstände sind lediglich in ein hyperphysisches Feld projiziert worden, wobei wir gar nicht wissen können, ob sie dort, hinter der Spiegelfläche, wirklich existieren. Ein solches Projektierte in den Bereich hinter der Spiegelfläche bezeichnet Kant als focus imaginarius, als einen eingebildeten Punkt, in dem sich die Verstandeserkenntnisse von Gegenständen der Erfahrung hinter dem Rücken des Betrachtenden zusammenlaufen sollen.

 

2.2 Keine Kritik am Grundsatz selbst

 

Im zweiten Kapitel seiner Arbeit argumentiert Meer dafür, dass Kants Kritik sich nicht gegen das reine Vernunftvermögen und seinen Grundsatz, sondern gegen den missverstandenen epistemischen Status des Unbedingten richtet. Um das deutlich zu machen, geht er auf den Abschnitt zu den Antinomien ein. Kant folge methodisch, wie der Autor feststellt, einer Art pyrrhonischen Begründungsskeptizismus (30 ff.), bei dem einem Argument ein gleichwertiges gegenübergestellt wird, um zu zeigen, wie zwei dogmatische Parteien vergeblich um eine im Grunde unentscheidbare Angelegenheit streiten. Im Unterschied zu den traditionellen Metaphysikern und dogmatischen Skeptikern weist ein Kritiker dabei aber lediglich die Grundlosigkeit der Beweise auf, ohne sich auf die Seite der These oder der Antithese zu stellen (40 f.).

 

2.3 Schließen auf das Unbedingte hinter der Spiegelfläche

 

Im dritten Kapitel seines Buches erklärt Meer, wie die Vernunftschlüsse grundsatzgemäß so funktionieren, dass sie den Erkennenden auf die Gegenstände Gott, Welt und Seele hinausführen. Dabei trifft er eine für seine Analyse bedeutende Unterscheidung zwischen den Begriffen „Vernunftideen“ und „Vernunftprinzipien“, die, wie er selbst zugibt (70), von Kant selbst nicht strikt vorgenommen wird, insofern bei ihm die Ausdrücke „Idee“ und „Prinzip“ oft synonymisch verwendet werden. Mit den Ersten sind die drei angeführten Gegenstände der metaphysica specialis (zweiter Abschnitt des Anhangs), mit den Letzten die transzendentallogischen Termini „Homogenität“, „Kontinuität“ und „Spezifikation“ (erster Abschnitt) gemeint. Bei seiner Darstellung der metaphysischen Deduktion der Ideen und Prinzipien legt Meer Wert darauf, alle bestehenden Zusammenhänge so gut wie möglich kenntlich zu machen und die Transzendentale Dialektik vor einer bloß fragmentarischen Auslegung zu schützen, zu welcher in der Forschung einige Tendenzen bestehen (108 ff.).

 

2.4 Reziprokes Verhältnis des Bedingten zum Unbedingten

 

Daraus, dass die Vernunft einen natürlichen Hang zu illusionären Projektionen hat, ist nun nicht der Schluss zu ziehen, ihr sei der Rücken zu kehren. Vielmehr will Kant seine Leser überzeugen, dass der transzendentale Schein einen positiven Nutzen habe, wie Meer im vierten Kapitel darlegt. Als Erstes muss begriffen werden, dass es nicht die Vernunft, sondern die Urteilskraft ist, die zu der fehlerhaften Annahme verleitet, wirkliche Gegenstände von konkreter Beschaffenheit zu erkennen (142 f.). Als Zweites muss das besondere Verhältnis von Zweck und System durchdacht werden. Kants Neuerung gegenüber vorausgehenden Systemdenkern bestehe darin, das Systematische aller Erkenntnis stets auf seine Zweckmäßigkeit zu beziehen (152 ff.). Das System soll kein bloßes Aggregat von Teilen, aber auch nicht ein bloß nach einer mathematischen Methode entwickeltes Ganzes, sondern eine zweckmäßige organische Einheit ausdrücken. Das garantieren die (a) Vernunftprinzipien und (b) Vernunftideen.

 

2.5 Das Unbedingte hinter der Spiegelfläche gilt für mögliche Erfahrung

 

Im Anhang zur transzendentalen Dialektik geht es Kant darum, den Grundsatz der Vernunft zu einem regulativen umzuinterpretieren (215). Dabei gilt es festzustellen, ob die Vernunftprinzipien und Vernunftideen als transzendentale Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fungieren können. Im Kapitel 5 seiner Arbeit stellt sich Meer die Frage, ob und inwiefern die transzendentale Deduktion der Vernunftbegriffe möglich und ob sie überhaupt im Anhang durchgeführt ist. Er stellt fest, dass man bei Kant, der sie zwar im expliziten Vergleich zur Deduktion der reinen Verstandesbegriffe für unmöglich, dafür aber im weniger strikten Sinne in Form einer transzendentalen Rechtfertigung zumindest für nötig hält (186), drei konkurrierende Rechtfertigungsstrategien unterscheiden kann. Entweder (a) behauptet man, die Vernunftbegriffe haben einige objektive Gültigkeit, weil sie den Verstandeserkenntnissen nicht zuwiderlaufen, sondern sie in die ihnen selbst schon natürliche systematische Richtung erweitern (epistemologisch-methodische Deduktion bzw. Kompatibilitätsthese (196 ff.)). Oder sie seien deswegen teilweise objektiv gültig, (b) weil die Vernunft mit ihrer Hilfe nicht bloß eine widerspruchsfreie Erkenntnisrichtung vorgibt, sondern auch einen „Gegenstand in der Idee“ setzt und damit absichtlich eine Art Realisierung und Hypostasierung vornimmt (metaphysisch-ontologische Strategie (198 ff.)). Damit erhält die systematische Verstandeserkenntnis einen konkreten Gegenstandsbezug a priori, wobei es dabei um einen Gegenstand überhaupt, einen „Quasi-Gegenstand“, geht (202 f.). Beide Strategien seien nun nach Meer nur teilweise plausibel, dafür aber defizitär und stellen im Grunde nur eine subjektive Deduktion (aus der Natur des Vernunftvermögens) dar (204). Er vertritt daher die Ansicht, dass Kant eine komplett zufriedenstellende Lösung in der Kritik der reinen Vernunft noch nicht gefunden habe und dass sogar (c) eine weitere Rechtfertigungsmöglichkeit ansatzweise im Text entdeckt werden könne (205 ff.). Sie bestehe darin, den objektiven Geltungsstatus der Vernunftbegriffe mittels der Reflexion über ihren logischen Zusammenhang (denn sie machen unter sich ein System aus) und als „Horizonte“ des systematischen Denkens zu rechtfertigen.

 

2.6 Konkrete Beispiele

 

Eine der Stärken der Arbeit von Meer besteht in zahlreichen Veranschaulichungen komplexer Zusammenhänge. Nach dem Aufgreifen der Frage nach der Doppelfunktion des Grundsatzes (216 ff.) analysiert er im letzten Kapitel seines Buches die Verwendung der Vernunftbegriffe anhand einzelner bei Kant vorkommenden Beispiele aus den Naturwissenschaften, der Anthropologie und der Theologie unter Berücksichtigung ihres wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes. Man lernt dabei, wie die Gegenstände hinter der Spiegelfläche in concreto das wissenschaftliche Forschen beeinflussen und begünstigen.

 

3 Was diskutabel ist

 

Im Folgenden wird auf zwei diskutable inhaltliche Punkte aus Meers Arbeit eingegangen: 3.1 die Einschätzung der pyrrhonischen Skepsis und 3.2 die Rolle des principium vagum für die quasi-transzendentale Deduktion der Vernunftbegriffe.

 

3.1 Das Ziel der Skeptiker um Agrippa

 

Der These von Meer, dass Kant im Kapitel zu den Antinomien der Vernunft mit einer Art pyrrhonischer Skepsis operiere (vgl. oben 2.2), kann durchaus zugestimmt werden. Was problematisch und irritierend ist, ist aber die folgende Aussage: „Der pyrrhonische Skeptizismus aber schließt anhand der fünf Tropen von der Grundlosigkeit einer Behauptung auf die Grundlosigkeit des Beweises und dessen Gegenstand. […] Der skeptische Einwand geht dabei auf einen Satz und braucht daher wie der Dogmatismus Einsicht in die Natur eines Gegenstandes, um etwas von ihm zu bejahen oder zu verneinen“ (40, hervorgehoben von mir). Bei den Tropen des Agrippa handelt es sich nach der Darstellung von Sextus Empiricus nun aber ausdrücklich um Tropen der Zurückhaltung (im Wissen). Wie Empiricus darlegt, bestehe das Ziel der pyrrhonischen Skepsis in der Urteilsenthaltung in anspruchsvollen theoretischen Fragen, im Rückgang zu Alltagsrelevantem und in der Seelenruhe. Die Behauptung, ein übersinnlicher Gegenstand existiere gar nicht, also eine starke Stellungnahme, wäre gerade nicht im Eigeninteresse der Skeptiker um Agrippa (aus demselben Grund reden sie auch von Tropen und nicht von Argumenten) – es geht ihnen lediglich um eine „bildhafte“ Demonstration der Unmöglichkeit der Begründung des Gegenteils. Daraus folgt nicht ohne Weiteres, dass sie damit zugleich behaupten, ein übersinnlicher Gegenstand sei nicht-existent – das wäre eine zu starke interpretatorische Unterstellung. Kant hat vielmehr die etwas explizit und schlechthin „dreist verneinenden“ (KrV, A 781 / B 809) – etwa die Existenz eines Welturhebers – Skeptiker vor Augen, gegen die man (wie er in der Methodenlehre ausführt) mit Gegenhypothesen der reinen Vernunft als polemischen und eigentlich nur „bleiernen Kriegswaffen“ (vgl. KrV, A 776 ff. / B 804 ff.) zu Felde ziehen darf, um deutlich zu machen, dass sie mit ihren Aussagen etwas zu wissen behaupten, was man genauso wenig wissen kann.

 

 

3.2 Transzendentale Deduktion der Vernunftbegriffe und das principium vagum

 

Es ist möglich, aber, wie es dem Autor selbst bewusst ist, problematisch, eine terminologische Unterscheidung zwischen Vernunftprinzipien und Vernunftideen zu fällen, insofern als Ideen von Kant auch als absolute Prinzipien (lat. principium: Anfang, Ausgangspunkt) angesehen werden. Die logischen Gesetze (Prinzipien) der Spezifikation, Kontinuität und Homogenität werden von Kant auch im Hinblick auf bestehende wissenschaftliche Rationalitätstypen („Denkungsarten“) thematisiert (vgl. KrV, A 654 f. / B 672 f.). Es gebe einige analytische bzw. empirische Köpfe, die dazu tendieren, die Erkenntnisse so weit zu zergliedern, dass die dahinterliegende Einheit in Vergessenheit gerate. Andererseits gebe es solche, die sofort eine Einheit suchen, ohne die einzelnen Bausteine detailliert untersucht zu haben. Meer hat in seiner Arbeit zum einen ein harmonisches Verhältnis zwischen beiden Herangehensweisen gefunden, wie man es bei seiner Darstellung der Deduktion und der Systematik der Vernunftbegriffe sieht, bei der er stets auch auf die Zusammenhänge (vgl. oben 2.3) achtet und gegen eine bloß fragmentarische Auslegung des Kantischen Textes argumentiert. Bei der Analyse der transzendentalen Deduktion der Vernunftbegriffe dominiert bei ihm allerdings das Prinzip der Spezifikation (der analytische Rationalitätstypus) so weit, dass die drei Rechtfertigungsstrategien (vgl. oben 2.5) letztlich als nebeneinander bestehende Alternativen stehen gelassen werden. Man vermisst die Antwort auf die naheliegende Frage, ob sie auch im sinnvollen Zusammenhang gesehen werden können.

     Eine mögliche Überlegung zur Einheit der drei Strategien könnte von Kants Rede von der „Idee […] von der Form eines Ganzen der Erkenntnis“ (KrV, A 645 / B 673) ausgehen. Diese ist das eigentliche Zentrum und Bindeglied beider Teile des Anhangs. Meer erwähnt sie zwar (155), gibt ihr aber leider zu wenig interpretatorisches Gewicht. Es handelt sich um eine Idee, d. h. um ein Produkt der reinen Vernunft, das aber nicht zu den transzendentalen Ideen im engeren Sinne gezählt wird. So ist sie z. B. nicht mit dem transzendentalen Ideal als der allumfassendsten Vorstellung von der Einheit aller denkbaren Gegenstände überhaupt zu verwechseln. Die Einheit der systematischen Erkenntnis, als eine formal-methodologische Idee, ist, wie es aus beiden Teilen des Anhangs hervorgeht, ein principium vagum (vgl. KrV, A 680 f. / B 708 f., A 665 / B 693 und A 645 / B 673), d. h. ein vages, in mehreren Hinsichten unbestimmtes Prinzip. Die logischen Gesetze und die Ideen sind nun dasjenige, was diese Einheit zu einer bestimmten machen, und zwar: (1) hinsichtlich der konkreten Gegenstände (die Schemata Seele, Welt und Gott), unter denen die systematischen Erkenntnisse zusammenhängend begriffen werden (mit Meer: metaphysisch-ontologische Strategie), (2) die daher die Richtung, in welche die Erkenntnisse gehen sollen, bestimmen (epistemologisch-methodische Rechtfertigung) sowie (3) den Grad, „wie weit, der Verstand seine Begriffe systematisch verbinden soll“ (KrV, A 665 / B 693) – dieser steigert sich von Seele über Welt zu Gott als der höchstmöglichen Verbindung (Strategie nach der Systematik der transzendentalen Ideen untereinander). „Einige objektive Gültigkeit“ der transzendentalen Ideen ergibt sich aus dieser dreifachen Bestimmung der systematischen Einheit der Verstandeserkenntnisse, die sonst komplett unbestimmt und ohne konkrete Einheitspunkte/Objekte geblieben wäre. Die logischen Gesetze bestimmen dabei das formale Wie der Erkenntnisverbindungen untereinander.

 

4 Fazit

 

Meers Arbeit gehört zweifelsohne zu der Reihe der – insbesondere vor dem Hintergrund der radikalen Vernunftkritik im postidealistischen Denken – sehr bedeutenden Werke der jüngeren Generation der Kant-Forscher, die die positiven Funktionen der theoretischen reinen Vernunft ans Licht bringen und rehabilitieren. Sie kann als ein abschließendes Glied der Kette der ebenfalls in Kantstudien-Ergänzungsheften veröffentlichten Arbeiten zum Themenfeld der Transzendentalen Dialektik von Klimmek (2005), Pissis (2012) und Bunte (2016) angesehen werden. Im Rückgriff auf die Resultate u. a. dieser Studien können weitergehende Untersuchungen zu Funktionen der ganzen reinen Vernunft, die mit Ideen operiert, entstehen.

 

5 Literatur

 

Bunte, M. 2016. Erkenntnis und Funktion. Zur Vollständigkeit der Urteilstafel und Einheit des kantischen Systems. Berlin/Boston.

Kant, I. Akademie-Ausgabe (Kants gesammelte Schriften), hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: 1902 ff., darin:

KrV (1781/87) Kritik der reinen Vernunft (wird nach Originalpaginierung A/B zitiert).

Klimmek, N. F. 2005. Kants System der transzendentalen Ideen. Berlin/New York.

Meer, R. 2019. Der transzendentale Grundsatz der Vernunft. Funktion und Struktur des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. Berlin/Boston.

Pissis, J. 2012. Kants Transzendentale Dialektik. Zu ihrer systematischen Bedeutung. Berlin/Boston.