Lewin, M. 2023. Daniel Minkin, Rationalität philosophischer Forschung: Grundlagen einer metaphilosophischen Positionierung, Brill/mentis: 2021, Zeitschrift für philosophische Forschung 77/3, 390-393.

 

Daniel Minkin: Rationalität philosophischer Forschung. Grundlagen einer metaphilosophischen Positionierung, 504 S., Verlag Brill/mentis, Paderborn 2021.

 

Beiträge zur sich seit 1960ern entwickelnden Disziplin der Metaphilosophie veröffentlichen in unregelmäßigen Abständen auch deutschsprachige AutorInnen. Ich werde nach der Vorstellung von Daniel Minkins Buch anhand der Besprechung von zwei Themen zeigen, warum die philosophische Forschung zur Philosophie begrüßt und intensiviert werden soll.

     Der Autor befasst sich mit der Frage, ob und wie die Philosophie trotz verschiedener, z.T. einander widersprechender Verständnisse der Philosophie als ein rationales Unternehmen zu verteidigen ist. Wenn es nämlich keine allgemeingültige Definition der Philosophie und Festlegung ihrer Methoden gibt, dann lässt das begründete Zweifel an dem Nutzen der Beschäftigung sowohl mit Philosophie als auch Metaphilosophie aufkommen. Dem „metaphilosophischen Skeptizismus“ (328) und „metametaphilosophischen Skeptizismus“ (332) kann Minkin aber Einiges entgegnen, wobei er sein Projekt im Rahmen einer von ihm so bezeichneten „angelsächsisch inspirierten Philosophie“ (2) entwickelt.

     Nach einer umfassenden Einleitung (Kap. 1) beschäftigt sich der Autor mit sechs zeitgenössischen metaphilosophischen Positionen (Kap. 2), die als Fallstudien verstanden werden, auf die im Buch immer wieder zurückgegriffen wird. Diese sind (i) der Deflationismus (es wird versucht, die Philosophie extensional über die Aufzählung der philosophischen Tätigkeiten zu definieren); (ii) der Essenzialismus (der Versuch einer Realdefinition der Philosophie, z.B. über notwendig und genuin als philosophisch erkannte Methoden); (iii) die Lehnstuhlphilosophie Timothy Williamsons; (iv) die Experimentalphilosophie sowie debattierte Deutungen des (v) frühen („Alarmfunktion“ (97) der Philosophie) und (vi) späten Wittgensteins (philosophische Therapie).

     Im Anschluss (Kap. 3) stellt Minkin fest, dass die Verständnisse (iii)-(vi) mehr normative Elemente beinhalten als es ihre VertreterInnen zugeben wollen. Sie beschreiben nicht nur das Unternehmen der Philosophie, sie geben auch eine Anleitung zum Philosophieren. MetaphilosophInnen würden daher ein adäquateres Selbstverständnis ihrer Positionen entwickeln, wenn sie den „Operationalismus“ (188) erkennen würden, der ihren Nachforschungen zugrunde läge. Er basiere auf der „Idee, dass eine metaphilosophische Position eine instrumentell notwendige Einstellung ist“ (ibid.) – so geben etwa die Lehnstuhlphilosophie und die Experimentalphilosophie an, welche Reihe von Operationen zum Philosophieren dazugehört. Die Metaphilosophie lasse sich demnach allgemein als die Suche nach operativer Philosophiedefinition und als „Menge aller metaphilosophischen Einstellungen“ (208) verstehen.

     Wenn man die Metaphilosophie standpunkttheoretisch auffasst, dann zieht sofort der Schatten des Pluralismus mit, den Minkin als nächstes behandelt (Kap. 4). Der Pluralismus sei sowohl ein faktisch gegebenes Charakteristikum als auch ein echtes Problem für das metaphilosophische Unternehmen (222, 275). Keiner operativ verstandenen Definition der Philosophie könne Vorzug gegeben werden, nicht einmal gegenüber einer „Philosophie des Zahnarztes“ (269), da sie auf einer in die Tat umsetzbaren Einstellung beruhe. Die Frage nach der Angemessenheit des Philosophiebegriffs lasse sich nicht durch Zugriff auf allgemeingültige Abwägungskriterien entscheiden (297).

     Ein Beispiel für eine gut begründete metaphilosophische Position ist der methodologische Naturalismus (Kap. 5). Dieser schlage vor, alle Probleme als naturwissenschaftliche aufzufassen, nicht-naturwissenschaftliche Phänomene auf eine naturwissenschaftliche Basis zu reduzieren und Erfahrungstatsachen zu verwenden, die für eine Gesamttheorie der Wirklichkeit brauchbar sind (400). Auf einer weiteren Reflexionsstufe (Kap. 6) fasst Minkin den Naturalismus wie jede andere metaphilosophische Position als eine „Forschungseinheit“ (398) auf. Das bildet den krönenden Abschluss der bisherigen Argumentation. Da nämlich alle normativen Philosophiebegriffe operativ seien, auf Einstellungspräferenzen beruhen, im pluralen Verhältnis zueinanderstehen und aus mehreren theoretischen Bausteinen zusammengesetzt sind, liegt es nahe, sie als konkurrierende und fortdauernde Cluster aufzufassen. Dies geschieht in Analogie mit wissenschaftstheoretischen Diskussionen, wobei Minkin sich auf die Begriffe „disziplinäre Matrix“ und „Forschungsprogramm“ fokussiert. Er unterscheidet mehrere Elemente der disziplinären Matrix und des Forschungsprogramms und wendet sie auf das Projekt des Naturalismus an. Damit lässt sich auch der Skeptizismus im Hinblick auf die Philosophie als rationales Unternehmen teilweise zurückweisen: „Das Einnehmen metaphilosophischer und damit auch philosophischer Positionen beruht auf einer arationalen Präferenz und geschieht axiomatisch im allgemeinen Sinne“ (429). Die Rationalität der philosophischen Forschung entspreche damit dem durchaus zustimmungswürdigen Bild, das Kuhn und Lakatos von der wissenschaftlichen Praxis geben: trotz arationaler Elemente besteht der rationale Kern in der programmatischen Bestimmung der Forschungseinheiten.

     Damit leistet Minkin – wie es der Zufall will, in demselben Jahr wie Lewin (vgl. Lewin, Michael 2021: Das System der Ideen. Zur perspektivistisch-metaphilosophischen Begründung der Vernunft im Anschluss an Kant und Fichte, Freiburg/München, 209-246 und Lewin, Michael 2021: Transcendental Philosophy as a Scientific Research Programme, in: Kantian Journal 40/3, 93–126) – einen bedeutenden Beitrag zur wissenschaftstheoretisch informierten metaphilosophischen Erfassung philosophischer Forschungspraxis. Die bisherigen Rekonstruktionsversuche haben sich nämlich auf das Konzept des Paradigmas im Sinne des frühen Kuhns festgelegt ohne weitergehende Diskussionen in der Wissenschaftstheorie zu berücksichtigen. Dass dieses Konzept nicht das vollkommene Mittel der Erfassung philosophischer Forschungspraxis ist, zeigt das Problem seiner Anwendung auf synchrone, parallel verlaufende Forschungsprojekte.

     Wie der Zweittitel des vorgestellten Buchs suggeriert, will der Autor keine eigenständige metaphilosophische Position vertreten, sondern den Weg zu einer zukünftigen Positionierung durch Klärung gewisser Voraussetzungen ebnen. Eine der Bezeichnungen, die er seinem aktuellen Projekt daher gibt, ist „transzendentale Wissenschaftstheorie der Philosophie“ (17). In der Tat kann man die künftige Position, auf die Minkins „transzendentale“ Läuterung hinausläuft, in gewisser Weise schon voraussehen – sie kann „Perspektivismus“ oder „Kontextualismus“, mit pragmatistischen Elementen, oder einfach (gut verstandene) „Epistemologie“ heißen. Dafür nenne ich zwei Gründe. Erstens zeigt der Autor, dass die Rationalität der philosophischen Forschung bei irreduzibler Pluralität sowohl mit dem Begriff der disziplinären Matrix als auch mit dem Konzept des Forschungsprogramms rekonstruierbar ist. Wenn man weiterdenkt, könnte man dafür argumentieren auch solche wissenschaftstheoretisch relevanten Begriffe wie „Denkstil“ (Fleck), „Paradigma“ (der frühe Kuhn), „Forschungstradition“ (Laudan), „Mikrostrukturen“ (Kitcher) und „Modelle“ (Giere, Massimi – in der Metaphilosophie auch T. Williamson) heranzuziehen (vgl. zu diesem Vorschlag Lewin, Michael 2023: Metaphilosophie als einheitliche Disziplin, Berlin, 30-31). Denn sie ermöglichen perspektivischen Zugriff auf unterschiedliche Ebenen der Analyse philosophischer Forschungspraxis unter verschiedenen Aspekten. Wenn die metaphilosophische Forschung „philosophieorientiert“ ausgeübt wird, d.h. wenn es ihr eher um ein gutes, detailliertes und kontinuierliches Verständnis der Philosophie als um einen Antagonismus in Bezug auf Werkzeuge geht, dann kann sie nicht bei einer oder zwei wissenschaftstheoretischen Kategorien bleiben.

     Zweitens will ich auf den metaphilosophischen Operationalismus (Kap. 3) zu sprechen kommen. Minkin vertritt eine wichtige Ansicht (vgl. Kap. 3.2.3), die zugleich ein starkes Motiv für die Beschäftigung mit Metaphilosophie darstellt. Wer sich philosophisch betätigt, bringt eine Vorstellung davon mit sich, was Philosophie ist und umgekehrt: wenn man das Bild von der Philosophie ändert, ändert sich die philosophische Praxis mit. Insofern ist es für jede Philosophin und für jeden Philosophen vorteilhaft, sich metaphilosophisch fortzubilden. Minkin geht noch weiter: die Metaphilosophie sei keine philosophische Disziplin unter anderen (wie Ethik, Logik, Naturphilosophie), sondern habe einen besonderen Status (167). Das kann man mit gutem Recht bestreiten: Warum sollen dann nicht auch die Logik oder Sprachphilosophie „besondere“ philosophische Subdisziplinen sein? Denn wenn man philosophiert, gebraucht man auch logische Gesetze und Sprache. Einwände kann man auch gegen Minkins Überbeanspruchung des Begriffs „Definition“ (Kap. 3.2.3 und 3.3) bringen: nicht jedem Philosophieren folgt eine Philosophiedefinition voraus, weil die Definition eine besondere abgrenzende und begrenzende Leistung erfordert. Die alternativen vom Autor gebrauchten Begriffe „Einstellung“ oder „Position“ sind allgemeiner und z.T. für seine Argumentation passender, doch über deren Verhältnis zueinander und zum Begriff der Definition muss eine Auskunft gegeben werden, die man im Buch leider vermisst. Hier könnte man den PerspektivistInnen folgen, die eine jede epistemische Situation in Einzelbestandteile (wie Position/Einstellung, Perspektive, Aspekt, Relatum, Richtung, Bereich etc.) zerlegen und analysieren. Das würde mehr Unterscheidungen zur Rekonstruktion metaphilosophischer Positionierungen erlauben.