Lewin, M. 2017. Psychologischer Skeptizismus. Nietzsches Kritik am Deutschen Idealismus, Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte 8/2: 383-406. ISBN: 978-3-402-18883-5.
Zusammenfassung: Um herauszufinden, welche charakteristische Position Nietzsche bei seiner Beurteilung der Philosophie der Deutschen Idealisten einnimmt, werden zunächst drei Züge seiner allgemeinen Idealismuskritik dargestellt. Im zweiten Teil des Aufsatzes wird deutlich, dass sich hinter ihnen ein relativ zentral gelegenes Mittel für die psychologischen Entlarvungen verbirgt – die Thematisierung der Theorien und Haltungen unter dem Aspekt des Willens zur Macht. Die Einwände erhalten ihre Berechtigung aus der Hauptannahme, die Idealisten bedienten sich der ungesunden, maskierten und gegen den Perspektivismus gerichteten Formen des Willens zur Macht. Ob ein solcher psychologischer Skeptizismus die Prüfung durch Gegenargumente bestehen kann, ist das Thema des letzten Teils des vorliegenden Aufsatzes.
Schlagwörter: Idealismus, Skeptizismus, Psychologie, Wille zur Macht, Kritik an der traditionellen Philosophie
Abstract: Firstly, in order to find out which characteristic position Nietzsche takes to assess the philosophy of the German Idealists three features of his general criticism of idealism will be depicted. In the second part of the paper it will become clear that there is a relatively central means hidden behind the psychological uncoverings – the thematisation of theories and attitudes in terms of the will to power. The objections obtain their justification from the main assumption, the idealists used unhealthy and masked forms of the will to power directed against perspectivism. Whether or not such psychological scepticism can stand up to counterarguments will be examined in the last part of the present paper.
Keywords: idealism, scepticism, psychology, will to power, criticism of the traditional philosophy
Im Zusammenhang mit den europäischen Entwicklungen im späten 19. Jahrhundert fällt oft der Ausdruck „Krise der Vernunft“[1]. Er deutet auf einen Prozess der Neuorientierung im politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlich-geistigen Leben hin, der sich entscheidend gegen die überkommenen Zustände, Theorien und Werte wendet. Eines der bedeutenden und maßgebenden gesellschaftspolitischen Ereignisse war ohne Frage die Märzrevolution von 1848/49, in deren Zentrum unter anderen Karl Marx, Michail Bakunin und Richard Wagner standen, die auf das intellektuelle Klima des 19. Jahrhunderts einen nicht geringen Einfluss ausübten. Im anderen Kontext unterminierten die Thesen von David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und Max Stirner, um nur einige zu nennen, gemeinsam mit der Evolutionstheorie die Sicherheit der christlichen Glaubenslehre. Die lebensphilosophischen, pragmatischen und positivistischen Schulen wandten sich gegen Formen abstrakten Denkens und setzten neue Prioritäten in der philosophischen Welterschließung. Im Hinblick auf die Wissenschaftstheorie und Naturwissenschaften vollzog sich – wie man es beispielhaft bei Hermann von Helmholtz sehen kann – ein sogenannter „Wahrheitsgewissheitsverlust“[2], nach dem der Anspruch des klassischen Wissenschaftsbegriffes auf absolute Wahrheiten und auf ihre Gewissheit in radikalen Zweifel gezogen wurde.
Nietzsches Denken befindet sich einerseits im großen Ganzen dieser Bewegung und steht vielen zeitgenössischen Konzepten nahe, andererseits reift es zu einer individuellen Haltung heran, die sich methodisch zum Teil sogar gegen sie wendet. Das Essenzielle seiner Philosophie ist nicht die zu seiner Zeit in Mode gekommene historische Durchdringung der Wirklichkeit – wie z.B. in Marx’ Materialismus, sondern in erster Linie der psychologische Sinn. Die Psychologie, meint Nietzsche in seiner späteren Schaffensperiode, wie z.B. in Jenseits von Gut und Böse, soll die Herrin aller Wissenschaften werden, denn sie sei „der Weg zu den Grundproblemen“ (JGB 23). Anders als im klassischen Wissenschaftsmodell wie nach der Baummetapher von Descartes, mit der Metaphysik als Wurzel, Physik als Stamm und allen anderen Wissenschaften als Ästen, wird eine bestimmte Art der philosophischen Psychologie als Königsdisziplin vorgeschlagen. Sie soll die übrigen, zumindest geisteswissenschaftlichen Disziplinen nach ihren Erkenntnissen im Grund verändern und berichtigen: Anstelle der Metaphysik und der Religion soll es eine „ewige Wiederkunftslehre“ geben, anstelle der Erkenntnistheorie eine „Perspektiven-Lehre der Affekte“, anstelle der Soziologie eine „Lehre von den Herrschaftsgebilden“ (Nachlass 1887, 9[8], KSA 12.342 f.).
Mit dieser psychologistischen Auffassung zeigt sich Nietzsche als Gegner einer wirkmächtigen Periode der deutschen Philosophiegeschichte, die noch insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die philosophische Landschaft bestimmte, des Deutschen Idealismus. Während Fichte, Schelling und Hegel noch gewissermaßen durch die Kantische Transzendentalphilosophie geläuterte Formen der Metaphysik aufstellen, versucht Nietzsche im Rückgriff auf die psychologische Durchleuchtung der metaphysischen und moralischen Denkmodelle dem bisher Verborgenen und Verbotenen hinter den Theorien nachzuspüren, um sie damit zu destruieren.
In meinem Aufsatz werde ich sowohl das Wesen von Nietzsches Kritik am Deutschen Idealismus entfalten, die scheinbar ohne Einschränkung unter die allgemeine Idealismuskritik fällt, als auch auf ihre möglichen Grenzen hinweisen.[3] Zur Kennzeichnung seiner Position wähle ich den Begriff „psychologischer Skeptizismus“ und tue das aus folgenden Gründen: Erstens schlage ich damit eine Interpretation vor, die den herausragenden Wert des Psychologischen, insbesondere vor dem Hintergrund seiner Kritik an der traditionellen Philosophie, doppelt unterstreicht.[4] Hinsichtlich des Begriffes „psychologisch“ ist jedoch Vorsicht geboten – er trägt nicht die Bedeutung, mit der wir heutzutage am meisten vertraut sind. Auf seine Erläuterung werde ich im zweiten Teil des Aufsatzes genauer eingehen. Zweitens werde ich dadurch Nietzsches Anspruch auf einen guten Leser gerecht: „Dass aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seines Gleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt, ein Leser, wie ich ihn verdiene […]“ (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 5). In der Tat hat sich vor allem in Nietzsches späterem Denken die Selbstbezeichnung als Psychologe gegenüber dem Philosophen mehr und mehr durchgesetzt.[5] Der Grund dafür ist seine Polemik einerseits gegen die Philosophen im klassischen Sinne, die aus seiner Sicht in corpore maskierte Theologen seien, und andererseits gegen die Universitätsprofessoren, die nichts Originelles schufen und für ihn daher nichts weiter als akademische Wiederkäuer darstellen.[6] „Psychologe“ ist daher eine attraktive Alternative für eine bereits pejorativ konnotierte Bezeichnung. Drittens sah Nietzsche trotz bzw. sogar aufgrund seiner kritischen Einstellung gegenüber der traditionellen Philosophie im Skeptiker den einzigen ehrenwerten Typus unter den Philosophen (EH, Warum ich so klug bin 3). Der psychologischen Durchleuchtung der klassischen Denkweisen folgen zunächst skeptische Konsequenzen, die im Anschluss durch eine neue Sinnschaffung überwunden werden müssen. Im Hinblick auf die destruktive Dimension von Nietzsches Philosophie scheint mir daher die Charakterisierung „psychologischer Skeptizismus“ treffend zu sein.
Der vorliegende Aufsatz besteht aus drei Teilen – zunächst stelle ich die allgemeinen Züge der Einstellung Nietzsches gegenüber der Philosophie des Deutschen Idealismus im Rahmen der allgemeinen Idealismuskritik vor. Im Hauptteil versuche ich den Kern seiner Kritik als psychologischen Skeptizismus im Rekurs auf die Lehre vom Willen zur Macht herauszuarbeiten. Zum Schluss möchte ich sowohl auf die ohne Frage nicht geringe Bedeutung seiner Polemik als auch auf deren problematische Seite zu sprechen kommen.
I Allgemeine Züge von Nietzsches Kritik am Deutschen Idealismus
Wolfgang Janke schreibt über Nietzsches Verhältnis zum Idealismus: „Nietzsche schließlich […] hat für die idealistische ‘Bildung’ der deutschen Hoch-Zeit nur noch von Vorurteilen gesättigten Hohn und häßliche Verachtung übrig.“[7] In der Tat erweckt der große Umwerter aller Werte diesen Anschein, wenn man zum Beispiel die folgende Passage aus einem Brief an Malwida von Meysenbug liest:
[…] ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordene Unwahrhaftigkeit, als ein Nichtsehn-wollen der Realität um jeden Preis: jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus. Es giebt über der bisherigen Menschheit gar kein schlimmeres Verhängniß als diesen [sic!] intellektuelle Unsauberkeit; man hat den Werth aller Realitäten entwerthet, damit, daß man eine ‘ideale Welt’ erlog … (Friedrich W. Nietzsche an Malwida von Meysenbug, 20.10.1888, 1135, KSB 8.458).
Den Begriff „Idealismus“ benutzt Nietzsche als ein totum pro parte, als den Inbegriff einer feindlichen Weltansicht, die in der Geschichte der abendländischen Philosophie in mehreren Varianten, von platonisch-sokratischer Lehre über die mittelalterlichen Denksysteme bis hin zum Deutschen Idealismus vorkommt. Unter die Bezeichnung „Idealisten“ fallen aber auch die opportunistischen Rezipienten und Unterstützer dieser Bewegung. In seiner Berufswahl als Philologe sah Nietzsche auch eine Art Idealismus und laut Ecce Homo den Grundirrtum seines Lebens (EH, Warum ich so klug bin 2). Ferner ist damit ein „Wertepaket“ mit einer bestimmten Festsetzung der Rangordnung der einzelnen Werte verbunden, die christlich-moralisch motiviert ist. Der Idealist ist damit ein verallgemeinertes zusammengesetztes Bild eines in persona unbestimmten Antagonisten, mit Eigenschaften und Merkmalen, die Nietzsche mit seiner Philosophie bekämpfen will. Der Protagonist und sein Gegner ist ausdrücklich der dionysische Philosoph – der Psychologe (EH, Warum ich ein Schicksal bin 6).
Dementsprechend ist auch Nietzsches Kritik an den Deutschen Idealisten nicht zuvörderst an Details orientiert, sie werden insoweit angegriffen, als sie überhaupt Vertreter dieses Typus der „verdorbenen“ Weltansicht darstellen. Oft und meistens findet man Stellen, an denen Nietzsche einfach nur auf das Unwillkommene ihrer Philosophie hinweisen will, zum Beispiel auf rhetorische Weise mit folgendem Wortspiel:
Die Deutschen sind in die Geschichte der Erkenntniss mit lauter zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur „unbewusste“ Falschmünzer hervorgebracht (- Fichte, Schelling, Schopenhauer, Hegel, Schleiermacher gebührt dies Wort so gut wie Kant und Leibniz, es sind blosse Schleiermacher -) […] (EH, Der Fall Wagner 3).
Diese künstlerisch inspirierte Strategie des Bloßstellens verläuft jenseits des akademischen Rahmens der detaillierten Rezeption und des strikten Argumentierens und verrät allgemeine Züge von Nietzsches Kritik. Man kann versuchen, sie wie folgt am Modell einer fiktiven Erstbegegnung zu rekonstruieren. Zunächst fällt uns die Kontraintuitivität auf, eine Art gefühlsmäßiger Protest-Haltung Nietzsches gegenüber den Merkmalen der Philosophie des Deutschen Idealismus. Dazu passend finden sich solche Stellen wie z.B.:
Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Hegel, Schelling um, man lese ihre Briefwechsel und führe sich in den grossen Kreis ihrer Anhänger ein: was ist ihnen gemeinsam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt sind, bald so unausstehlich, bald so rührend und bemitleidenswerth? Einmal die Sucht, um jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen; sodann das Verlangen nach glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten) […] (M 190).
Diese Kontraintuitivität verdeutlicht einen Kampf der Charaktere und Einstellungen, wie sie aus zwei grundsätzlich verschiedenen Rangordnungen der Werte resultieren. Man darf Nietzsches Methode an dieser Stelle nicht unterschätzen – sie ist ein wesentliches Werkzeug seiner Philosophie, sie lädt den Leser durch stilistische und pathetische Elemente zu einem freien Spiel der Perspektiven, zur Annahme bestimmter Werte ein und bildet damit seinen kritisch-psychologischen Sinn. Das Programm der Umwertung aller Werte kann wenig im Rahmen trockener kühler Abhandlungen funktionieren. Erst die Ergriffenheit durch einen Wert, ein Sich-Hineinleben fordert neue Perspektiven und Anfeindung gegenüber den früheren. Dazu können rhetorische, künstlerische und sogar zynische Mittel die stärkeren sein.[8] Die praktische Ebene der Werte gibt den Ton der Auseinandersetzung Nietzsches mit der traditionellen Philosophie an.
Der nächste auffallende Zug von Nietzsches Unmut gegenüber dem Idealismus ist der damit verbundene Vorwurf der Unwissenheit sowohl in rebus physiologicis als auch psychologicis. Diese macht er oft für die Starrheit im Umgang mit Werten verantwortlich. Das Aufblühen der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert fand Anklang in zahlreichen philosophischen Ansätzen. So hat z.B. Schopenhauer versucht, die aktuellsten Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften zur Bestätigung seiner Willensmetaphysik fruchtbar zu machen.[9] Schon in seiner Dissertation hat er den Verstand und seine Form, das Gesetz der Kausalität, als eine Funktion des Gehirns erklärt, während es noch bei Kant als ein reines apriorisches Konzept ohne physiologische Wirklichkeit erscheint.[10] Nietzsche interessiert sich vor allem für die Auswirkungen der körperlichen Zustände auf das Entstehen von geistigen Produkten. Im Einzelnen führt er bestimmte Interpretations-, Auslegungs- und Wertschätzungsleistungen auf die aktuelle physiologische Lage zurück. So liege einem moralischen Urteil ein körperlicher Erregungszustand zugrunde, der entladen und nach Außen hervortreten müsse, und nicht etwa eine metaphysische Welt, was Nietzsche z.B. Kant vorwirft, noch geglaubt zu haben (Nachlass 1885, 2[190], KSA 12.161). Zur Steigerung und Erhaltung der intellektuellen Kräfte allgemein rät er im autobiografischen Rahmen gute Ernährung, sportliche Aktivitäten, behutsame Wahl der Erholungsarten und Abstinenz von Alkohol. Die Beachtung dieser scheinbar unbedeutenden und mit großen philosophischen Gedanken und Aufgaben inkommensurablen Banalitäten ist aus Nietzsches Sicht ausdrücklich der große Anfang der Umwertung aller Werte – hier, im Kleinen, beginne der Bruch mit Gewohnheiten, die von herkömmlichen Idealen vermittelt werden und zur Vernachlässigung der Körperpflege führen (EH, Warum ich so klug bin 10).[11] Hinsichtlich des Problems mit den psychologicis wirft Nietzsche den Deutschen Idealisten im Sinne der allgemeinen Idealismuskritik Unsauberkeit im Umgang mit den Einstellungen und Theorien vor. Dieser Umstand bleibe durch den Schleier der Moral verdeckt. Zieht man ihn als einen die Tatsachen verhüllenden Rechtfertigungsgrund ab, so werden die Ursachen der großen Irrtümer, metaphysischer Ideen und Werte transparent. Der Kampf mit der moralischen Perspektive ist aber insofern ein schwieriges Unterfangen, als diese sowohl von Autoren als auch vom Publikum akzeptiert wird. Nietzsche drückt daher oft sein Missfallen an der einseitigen deutschen idealistischen Bildung aus und fühlt sich verurteilt „unter einem Volke [zu leben], welchem in psychologischen Dingen überhaupt noch jede Vorschulung fehlt (ein Volk, das Schiller und Fichte ernst genommen hat!!).“ (Nachlass 1886, 5[79], KSA 12.220).
Aus der Kontraintuitivität im Hinblick auf die divergierende Rangordnung der Werte und dem Vorwurf der mangelhaften Kenntnisse in physiologischer und psychologischer Hinsicht erwächst der dritte allgemeine Zug von Nietzsches Kritik, die Unzufriedenheit mit der Wahl der Methode und der Untersuchungsgegenstände. Auf der Seite der Methode gehört dazu die Kritik am Systematischen, wobei das System als ein Mittel verstanden wird, die sonst schwachen Argumente stärker zu machen, etwa durch die Enthistorisierung und „Mumifizierung“ des Seienden, sowie an der mangelhaften Auseinandersetzung der Metaphysiker mit den Eigentümlichkeiten des Sprachgebrauchs. Auf der Seite der Untersuchungsgegenstände beanstandet Nietzsche zum einen die Wahl von Fragen, die unbedeutend oder unbeantwortbar seien, und zum anderen die Vernachlässigung der tatsächlich relevanten Themen, wie z.B. die Rolle des Mitmenschen, der Sinnlichkeit und des Leibes.[12] Anstatt auf diese einzelnen Punkte genauer einzugehen, werde ich nun das Kernkonzept bestimmen, aus dem heraus die Kritik erst ihre wahrhafte Argumentationskraft und Berechtigung erhält.
II Der psychologische Skeptizismus im Kontext des Willens zur Macht
Ich habe zunächst also drei wesentliche Züge von Nietzsches Angriff gegen die Deutschen Idealisten im Rahmen der allgemeinen Idealismuskritik dargestellt. Sie leuchten im Gesamtkontext der Nietzsche’schen Philosophie ein, entbehren aber für ein tieferes Nachdenken, wenn sie so einfach in den Raum gestellt werden, eines greifbaren Argumentes. Wenn es sich nämlich entzieht und verborgen bleibt, dann haben wir keine Grundlage für eine kritische Überprüfung seiner Richtigkeit und damit für die Entscheidung, Nietzsches Position überzeugt zu folgen bzw. nicht zu folgen. Ich versuche aus diesem Grund im Weiteren das Hauptargument unter dem Stichpunkt „psychologischer Skeptizismus“ zu rekonstruieren. Dazu muss ich auf zwei Fragen antworten: 1. Was bedeutet die Psychologie im Sinne Nietzsches? und 2. Was beinhaltet das dahinterstehende Prinzip des Willens zur Macht?
Im 19. Jahrhundert gab es – wie heute – nicht nur eine einzige psychologische Strömung, sondern mehrere verschiedene und miteinander rivalisierende Schulen. Insgesamt befand sich die Psychologie auf Trennungskurs von der Philosophie, insbesondere nach der Hegel’schen Wirkperiode. Noch 1830 kritisiert Hegel im Rahmen der Geistesphilosophie drei Formen von mangelhafter, einseitiger psychologischer Erkenntnis.[13] Die erste sei die der bloßen Selbsterkenntnis im trivialen Sinne und der Menschenkenntnis, die bloß auf die Einzelheiten achte und niemals zu einer Allgemeinheit vordringen könne. Ein Pendant dazu wäre z.B. die heutige eher als unwissenschaftlich geltende Alltagspsychologie, die von der Wahl der Kleidung auf das psychische Bild des Menschen oder von der Größe und Form des Weinglases darauf schließt, wie viel Wein er am Abend trinken wird. Ihr entgegengesetzt sei die rationale Psychologie als ein Gebiet der metaphysica specialis, wie sie insbesondere von der Leibniz-Wolffschen-Schule geprägt wurde. Ihr Mangel bestehe in der Erfassung der Seele als eines erscheinungslosen Wesens, als einer festen Substanz. In der Mitte zwischen der auf unbedeutende Einzelheiten gerichteten Psychologie der Selbst- und Menschenkenntnis und der abstrakt-allgemeinen rationalen Psychologie stehe die empirische. Sie befasse sich zwar mit konkreten seelischen Gegebenheiten und spreche sich radikal von jeder Metaphysik ab, bediene sich dabei aber unbeholfen der Verstandesbegriffe wie Vermögen, Kräfte, verschiedene Tätigkeiten usw., ohne ihre epistemologische Funktion zu klären. Deshalb trifft auf die empirische Psychologie auch das Prädikat „positivistische“ bzw. aktueller „neupositivistische“ zu, weil sie zum einen von einem grundlegend unveränderlichen, naturwissenschaftlichen und für alle verbindlich seienden Begriff der Realität ausgeht und zum anderen durch objektivistischen Drang jede Beeinflussung der psychologischen Erkenntnisse durch Wertsetzungen der Forscherpersönlichkeit so gut wie möglich ausschließen will.
Diese Aufstellung reicht aus, um in ihrem Kontext Nietzsches Position zu bestimmen. Sie ist der Psychologie der Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis am nächsten. Entgegen der Charakterisierung von Hegel und anders als die heutige Alltagspsychologie erscheint sie jedoch nicht in trivialer Form, obwohl – zugegeben – Nietzsche seine Vorbilder insbesondere unter den französischen Romanciers sah, die auch wie er, als „Genies des Herzens“[14], die wahrhafte menschliche Natur hinter den Taten ihrer literarischen Figuren entlarvten (EH, Warum ich so klug bin 3, Warum ich so gute Bücher schreibe 2). Die appolinische Forderung „γνῶθι σεαυτόν“, „erkenne dich selbst“, sei nämlich, wie Nietzsche sich ausdrückt, „im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit“ (FW 335). Die Selbstbeobachtung und Menschenkenntnis sei in der Tat eine der schwierigsten Künste überhaupt und scheine nur denen leicht zu fallen, die sich bei der Beurteilung ihrer selbst und ihrer Nächsten der moralischen Vorurteile bedienen. So wirft Nietzsche z.B. Kant vor, ein unzulänglicher Psychologe und Menschenkenner zu sein, welcher annimmt, dass das Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz schlechthin in jedem insgeheim wirke und einen der möglichen Schlüssel für das psychologische Verständnis des Verhaltens der Mitmenschen biete.[15] Im außermoralischen Sinne fordere die Selbst- und Menschenkenntnis einerseits hohe geistige Aufmerksamkeit und Anstrengung und andererseits eine Stärke des Individuums, ihre Folgen zu ertragen. Die höchste Ausdruckskraft der psychologischen Wahrheiten sei nämlich der Zynismus,[16] denn alles, worauf der moralische Mensch irrtümlicherweise vertraut, z.B. die genannte Achtung für das Sittengesetz, soll entlarvt, bloßgestellt und destruiert werden – dieses Leiden, diese Tragik bringt nur demjenigen Früchte, der sie fröhlich und lebensbejahend ertragen kann.
Bis zum Ende der sogenannten „Vormittagsphilosophie“, also bis Also Sprach Zarathustra, scheint sich kein Kernkonzept hinter den psychologischen Demaskierungen Nietzsches zu verbergen. Sie lassen sich gut mit dem Motiv hinter dem Buch Menschliches, Allzumenschliches beschreiben: „[W]o ihr ideale Dinge seht, sehe ich – Menschliches, ach nur Allzumenschliches!“ (EH, Menschliches, Allzumenschliches 1). Die idealistischen Ansichten versucht Nietzsche dementsprechend auf alltägliche, physisch-psychische Zustände und Erlebnisse zurückzuführen.[17] Etwa ab Also Sprach Zarathustra rückt jedoch das Konzept des Willens zur Macht zunehmend ins Zentrum der psychologischen Erklärungen. Zum ersten Mal wird dieser Begriff in den Jahren 1876/77 erwähnt, also nach dem Bruch mit Wagner und Schopenhauer und zwischen den Unzeitgemäßen Betrachtungen und Menschliches, Allzumenschliches. Will man die Kontinuität in der Entwicklung des Nietzsche’schen Denkens betonen, so könnte man den schon in der Geburt der Tragödie sich zeigenden Wert der Lebensbejahung als den Vorgänger des Konzeptes des Willens zur Macht annehmen. Es gibt dazu eine interessante Notiz in den nachgelassenen Fragmenten zwischen 1882 und 1883: „Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht“ (Nachlass 1882, 5[1], KSA 10.187). Die Macht wird damit anscheinend zu einer näheren Bestimmung des Lebens, zu seinem eigentlichen Kern gemacht. Dennoch bezweifle ich, dass es sich dabei um ein metaphysisches Konzept als Erklärungsgrund alles Seienden handelt. Dazu müsste Nietzsche zunächst eine erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen dem Begriff des Willens zur Macht im Bewusstsein und einer real wirkenden Macht hinter den Dingen machen. Dann müsste er auf irgendeine Weise, z.B. durch eine korrespondenz- oder kohärenztheoretische Annahme zeigen, dass der Begriff im Bewusstsein tatsächlich einem Grundprinzip hinter der Erscheinung entspricht und dass sie damit in ihrem Grunde als Seiende vollkommen erklärbar wären. Doch ein solches Vorgehen widerspricht komplett der Nietzsche’schen Intention und Intuition. Meine These ist daher, dass der Wille zur Macht von Nietzsche nicht als ein metaphysisches, sondern als ein psychologisches Prinzip gehandhabt wird: ein Erklärungs- und Entlarvungsgrund des menschlichen Denkens und Verhaltens par excellence.[18] Dafür bestimme ich dieses „Konzept“ mit folgenden kurzen Stichpunkten:
Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? – Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird (AC 2).
Die Identifizierung mit der bloß gesunden Form fällt aber weg, wenn Nietzsche auch im Hinblick auf die Theologie, Moral und die idealistische Philosophie vom Willen zur Macht spricht. Spätestens hier wird die Unterscheidung zwischen gesunden und ungesunden Varianten der Machtäußerung nötig: Gesund sind die offenen (oder spielerisch verdeckten) lebensbejahenden Formen. Zu den kranken gehören dagegen die entarteten und maskierten Arten, die umso schlechter sind, je mehr sie verabsolutiert werden, d.h. je mehr sie die Perspektivität und den natürlichen Kampf der Affekte ausschalten. Maskiert ist z.B. das Verlangen nach Freiheit und Unabhängigkeit – was sich als selbständiger Wert präsentiert, ist im Grunde ein Wille, die Macht zur erlangen –, ferner die Unterwerfung, um sich bei jemandem nützlich zu machen, der die Gewalt hat. Auch die Liebe, insbesondere der Altruismus – die scheinbare Selbstaufopferung – entpuppt sich als Wille zur Macht, genauso das Pflichtgefühl, das Gewissen und selbst die Erfindung von Theorien, Philosophien und Religionen, die einen scheinbar über die Mächtigen dieser Welt stellen und zum Richter über sie erheben (Nachlass 1886, 7[6], KSA 12.275).[21]
Aus dieser Psychologie der Menschenkenntnis unter dem Aspekt des Willens zur Macht hinsichtlich ihrer gesunden und maskierten Formen erwächst Nietzsches skeptische Einstellung gegenüber den Deutschen Idealisten. Das Kernargument hinter den drei wesentlichen Zügen seiner Kritik kann man daher wie folgt rekonstruieren:
Nietzsches Kontraintuitivität lässt sich daher auf seinen „Reinlichkeits-Instinkt“ zurückführen, der hinter der im Idealismus vertretenen Rangordnung der Werte eine Verabsolutierung, eine Ausschaltung der Perspektive zugunsten von maskierten Arten vom Willen zur Macht mit „psychologischen Fühlhörnern“ aufspürt. Dementsprechend werden die Ideale und Theorien im Medium der Geistigkeit, des Systems und anderer Verkleidungen gehalten, was dazu dient, die physiologischen und psychologischen Prozesse hinter ihrer Entstehung zu verdecken, deren Aufdeckung für sie von Nachteil wäre, indem sie ihre Geltung relativieren würde. Und folglich dienen die Fragen, Themen und Resultate nur der Bestätigung der vertretenen Werte und beschreiben nichts von der tatsächlichen Realität hinter ihnen.
III Ist Nietzsches Kritik berechtigt?
Nietzsche wäre kein guter Kritiker der Perspektiven, wenn er alle davon überzeugen wollte, ihm blind zu folgen. So sagt er unter der Maske des Zarathustra:
Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es. Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch. Der Mensch der Erkenntnis muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen können (Za I, Von der schenkenden Tugend 3).
In diesem letzten Teil des Aufsatzes will ich daher prüfen, ob die Deutschen Idealisten sich gegen den psychologischen Skeptizismus erfolgreich wehren können.
Ein verbreitetes Vorurteil sagt, es gäbe einen Skeptizismus um des Skeptizismus willen, ohne zureichende Reflexion. Ich behaupte dagegen, dass sich hinter jeder Form von Skeptizismus eine bestimmte Position und Haltung verbirgt, zu deren Schutz und Angriff gegen andere die kritische Argumentation da ist. So ist aus der Perspektive Kants und der Nachkantianer der Empirismus in seinen verschiedenen Ausprägungen die eigentliche Kernbestimmung des gegen sie gerichteten Skeptizismus.[22] Aus anderer Sicht sind die Positionen von Descartes, Kant und den Deutschen Idealisten ebenso wohl Formen von Skeptizismus, die an der Zulänglichkeit der empirischen Erkenntnis zweifeln und sie nicht als die prioritäre Quelle des notwendigen Denkens benutzen wollen.[23] Nietzsches psychologischer Skeptizismus geht in Richtung des empiristischen Standpunktes, den man genauer als einen naturalistischen bezeichnen könnte. Sein Ziel ist, die „entnaturalisierten“ bzw., was dasselbe ist, idealisierten Moralwerte „in ihre Natur zurückzuübersetzen – d.h. in ihre natürliche „Immoralität“ (Nachlass 1887, 9[86], KSA 12.380). Das scheinbar zu hoch eingeschätzte, für sich selbst stehende Geistige soll durch die Auffindung seiner Wurzel in den Affekten, im einfachen Leben, entwertet werden. Diese bereits von den alten pyrrhonischen Skeptikern anvisierte Rückbesinnung auf das einfache Leben wird von Nietzsche erneuert und radikalisiert: Man soll sich nicht nur dem einfachen Leben zuwenden, das allein ist zu wenig, sondern sich mit ihm auf das Tiefste im Medium des Willens zur Macht, und zwar in seiner gesunden Form, verbünden. Die Theoretisierung und Systematisierung sei aber gegen diesen Bund gerichtet.
Hier könnte nun das Gegenargument von der Seite der Idealisten ansetzen. Wenn die Theoretisierung und Systematisierung ein Mittel sei, schwächere lebensfeindliche Werte und Ansichten stärker zu machen, dann kann es umgekehrt auch sein, dass ein Denken von jemandem, der um jeden Preis versucht einer strikten theoretischen Bestimmung und einem System zu entweichen, sich im Grunde als fehlerhaft und äußerst problematisch entlarvt, wenn man es auf klare Begriffe bringt. In der Tat ist man bei Nietzsche falsch, wenn man nach letzter theoretischer Klarheit sucht. So weiß man z.B. zwar, dass verschiedene Motive inklusive moralischer Einstellungen und des metaphysischen Bedürfnisses auf Affekte zurückführbar seien, aber nicht welchen Affekten sie genau entsprechen und ob es ein Netz von ihnen gibt. Was im Zusammenhang damit verwundert, ist, dass Nietzsche einerseits den Willen zur Macht als einen Kampf der Affekte um Vorherrschaft bestimmt. So heißt es: „Der Wille, einen Affekt zu überwinden ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen Affektes“ (Nachlass 1882, 5[1], KSA 10.194). Andererseits sollen aber diejenigen Affekte, die für die Moral, Metaphysik, theoretische Klarheit usw. verantwortlich sind, im Kampf zurückgedrängt werden oder gar das Schlachtfeld verlassen. Ist das nicht eine einseitige Vorentscheidung für eine bestimmte Art von Werten? Verschwindet damit nicht die innere Spannung, das lebendige Ringen zwischen Affekten, die auf das Sinnliche und Affekten, die auf das Geistige hinausgehen: Verschwindet nicht die Lust am Überwinden von Hürden, was letztendlich das Gefühl der Macht steigert? Nun könnte Nietzsche behaupten, dass die Affekte auf der moralischen und geistigen Seite gefährlicher seien, sie sollen vermieden werden, weil sie sich gegen die Natur wenden, den Perspektivismus ausschalten wollen und man oft versucht, sie zu verabsolutieren. Es kann aber auch das Gegenteil behauptet werden, auch die sinnlichen Werte werden oft einseitig verabsolutiert.
Wenn man die Deutschen Idealisten nicht nur von den Hauptwerken her kennt, sondern auch andere Texte von ihnen aufmerksam liest, so findet man Stellen, die gegen diejenigen Interpretationen sprechen, die der ganzen traditionellen Philosophie vorwerfen, den einfachen lebenspraktischen Gesichtspunkt negiert und komplett missachtet zu haben. So entwickelt sich laut Hegels Berliner Antrittsrede das Bedürfnis nach Philosophie aus einem Widerspruch, einem zerreißenden inneren Kampf der Instinkte.[24] Einerseits fühlt man sich der Sinnlichkeit, dem Leib und den Gefühlen hingezogen – hier werden die sinnlichen Werte wach. Andererseits will man auch nicht komplett davon abhängen, sondern hat einen Trieb, die persönlichen Zwecke und Ziele in der Welt frei zu realisieren – hier äußern sich geistige Werte. Ist damit Nietzsches Forderung nach einem spannungsreichen Kampf um Macht nicht mehr freier Raum zur Verfügung gestellt als bei ihm selbst? Von Anfang bis zum Ende von Hegels System der Philosophie behaupten beide Seiten ihr Recht und keine kann zugunsten der anderen ganz aufgegeben werden, ohne dass das ganze System in Stücke ginge. Auch in Fichtes Wissenschaftslehre ist es nicht anders. Der späte Fichte stellt in einer lange wenig beachteten Wissenschaftslehre von 1804/II und in einer an breiteres Publikum gerichteten Schrift von 1806 sogar eine strukturierte Affektlehre auf, die bei Nietzsche fehlt.[25] So behauptet er, dass sich hinter jeder Form von Denken, von Philosophie und Weltansicht grundlegende Affekte verbergen. Sie stehen, wie es jetzt nicht mehr überraschend klingt, in einem Machtkampf miteinander – derjenige Affekt, der die Vorherrschaft bei einem Menschen gewinnt, benutzt alle anderen um seiner selbst willen. Dabei ist z.B. die Liebe zur Sinnlichkeit, zum Genuss aus der sinnlichen Weltansicht, selbst bei einem Religiösen vorhanden, jedoch nur unter der Herrschaft eines ihr eigentümlichen Affektes.
Laut der Theorie gibt es also weder bei Hegel noch bei Fichte eine Entartung des Willens zur Macht im Sinne einer radikalen Verabsolutierung oder Despotie eines Instinktes oder Affektes. In der Praxis kann es jedoch anders aussehen. Dort können diejenigen, die nicht über die nötige theoretische Einbildungskraft verfügen und daher den ganzen Raum des vielfältigen Denkens von der Sinnlichkeit bis hin zum Geist nicht überblicken und den gesamten Zusammenhang nicht durchdringen können, auch von der Philosophie der Deutschen Idealisten zu einem moralischen oder religiösen Fanatismus verleitet werden. Nietzsches psychologischer Skeptizismus, in seinem Kernargument artikuliert, trifft aus meiner Sicht daher, und das ist meine These zu diesem Punkt, weniger die Theorie als ihre Umsetzung, Wirkung und einseitige Interpretation.[26] Er ist eine Art, wie er sich ausdrückt, „Sicherheits-Polizei“: Immer wenn die Gefahr oder Tendenz einer einseitigen Verabsolutierung des Geistigen besteht, meldet sich Dionysos zu Wort. Ähnlich hat schon Max Stirner an Hegel die Besessenheit vom Geist im Sinne einer Despotie und Alleinherrschaft des Denkens kritisiert – doch findet man keine Anweisung zur Besessenheit in der Theorie, obwohl es natürlich nicht auszuschließen ist, dass jemand in der Praxis nicht genug lebenspraktische Klugheit hat, Erholungspausen einzulegen.[27] Die außerordentliche Bedeutung von Nietzsches Position liegt aus meiner Perspektive in dem Wachen über die Gesundheit im Machtkampf der Affekte. Daher sagt auch Zarathustra zu seinen Jüngern im Anschluss an die oben zitierte Stelle: „Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren“ (Za I, Von der schenkenden Tugend 3). Und das könnte man im Rahmen meines Aufsatzes wie folgt interpretieren: Immer wenn ein Ding an sich, eine Idee an sich oder Geist an sich gesetzt und alles andere verblendend in seinem Wert einseitig verabsolutiert wird, d.h. immer wenn der natürliche Zusammenhang, die Sinnlichkeit und die Welt der Erscheinung als Erscheinung negiert und verleugnet wird, kehrt Zarathustra zurück und stellt ihn wieder her. Und in diesem Sinne wäre Nietzsches Skeptizismus und Gesundheitsinstinkt Fichte und Hegel sogar in gewisser Weise willkommen.[28] So hoffe ich am Beispiel von Nietzsches Kritik am Deutschen Idealismus zumindest angedeutet zu haben, dass ein differenzierteres Bild entsteht, wenn man sowohl die drei allgemeinen Züge als auch das Hauptargument im Detail auf ihre Überzeugungskraft untersucht. Sie sind einerseits im Groben und Ganzen wenig überzeugend, was teilweise den mangelhaften Kenntnissen Nietzsches von Fichtes und Hegels Philosophie geschuldet ist. Andererseits ist es von Vorteil, sie zu kennen und im Auge zu behalten, denn sie wehren die Verabsolutierung des Geistigen, des realitätsfernen „Idealismus“, ab, und damit im Prinzip eine falsche Interpretation (auch wenn Nietzsche sich in ihr selbst verfängt), über die sich Fichte und Hegel schon zu Lebzeiten beklagt haben. Auch während des Studiums der bisher nicht überbotenen Porträtierungen des Geistes um 1800 wacht Zarathustra, wenn man ihn kennt, über die „Gesundheit“ des Lesers – und der Skeptiker entpuppt sich somit in Wahrheit als ein Freund.
[1] Vgl. John Wyon Burrow, Die Krise der Vernunft. Europäisches Denken 1848-1914. Aus dem Englischen übers. v. Burkhardt Wolf (Originalausgabe New Haven 2000), München 2003. – Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine leicht bearbeitete Version meines Vortrages am Berliner Nietzsche-Colloquium im Januar 2016.
[2] Vgl. Gregor Schiemann, Wahrheitsgewissheitsverlust. Hermann von Helmholtz’ Mechanismus im Anbruch der Moderne. Eine Studie zum Übergang von klassischer zu moderner Naturphilosophie, Darmstadt 1997.
[3] Die Literatur der letzten Jahrzehnte zum Verhältnis Nietzsche – Deutscher Idealismus ist relativ überschaubar und behandelt einzelne spezielle Fragen: Vgl. Katia Hay / Leonel Ribeiro dos Santos (Hg.), Nietzsche, German Idealism and its Critics, in: Nietzsche Today, Vol. 4, Berlin / Boston 2015; Rainer Adolphi, Moralische Integration. Über eine Lücke in Hegels Theoriebildung und die Nietzscheanischen Versuchungen der Antwort, in: Hegel-Jahrbuch (2009), S. 34-48; Wolfgang Welsch, Logik und Metaphorik – Zu Hegel und Nietzsche, in: Klaus Vieweg / Richard T. Gray (Hg.): Hegel und Nietzsche. Eine literarisch-philosophische Begegnung, Weimar 2007, S. 146-163; Katja V. Taver, Nietzsches Auseinandersetzung mit Fichte, in: Nietzsche-Studien 32.1 (2003), S. 365-373; Hartmut Traub, „So ruft, mit grossem Munde, der grosse Fichte!“ Über ein „Fichte-Zitat“ bei Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche Studien 26.1 (1997), S. 470-484; Werner Stegmaier, Nietzsches Hegel-Bild, in: Hegel-Studien 25 (1990), S. 99-110 und ders., Leib und Leben. Zum Hegel-Nietzsche-Problem, in: Hegel-Studien 20 (1985), S. 173-198. Ich will dagegen wissen, wie das eigentliche Zentrum seiner allgemeinen Idealismuskritik aussieht und ob sie sich gegenüber der Philosophie des Deutschen Idealismus als erfolgreich bewähren kann. In diesem Sinne werde ich bewusst nicht auf Nietzsches unterschiedliche Bewertung der einzelnen Vertreter eingehen, um zum Punkt zu kommen, das Wesentliche zu durchschauen und zu prüfen. Der Themenbereich, in dem sich der vorliegende Aufsatz bewegt, ist damit „Begründung und Skepsis“, wobei im Hintergrund die Hinterfragung der scheinbaren „Krise der Vernunft“ steht.
[4] Vgl. dazu die folgende Linie der Nietzsche-Forschung: Robert B. Pippin, Nietzsche, Psychology, and First Philosophy, Chicago 2010; Roman Lesmeister / Elke Metzner (Hg.), Nietzsche und die Tiefenpsychologie, in: Günter Funke / Rolf Kühn (Hg.), Seele, Existenz und Leben, Bd. 16, Freiburg 2010; Günter Haberkamp, Triebgeschehen und Wille zur Macht. Nietzsche zwischen Philosophie und Psychologie, Würzburg 2000; Martin Burger. Der Entlarver hinter der Maske. Die Sprache der Seele in der Philosophie Nietzsches, in: PH-Heft 9 (2000); Reinhard Haslinger, Nietzsche und die Anfänge der Tiefenpsychologie, München 1992; Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph-Psychologe-Antichrist. Aus dem Amerikanischen (4. Aufl. New York 1974) übers. v. Jörg Salaquarda, Darmstadt 1982; Peter Seidmann, Die perspektivische Psychologie Nietzsches, in: Heinrich Balmer (Hg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. I, Die europäische Tradition, Tendenzen, Schulen, Entwicklungslinien, Zürich 1976, S. 382-445; Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Leipzig 1926.
[5] Wenn Nietzsche sich doch noch als Philosophen bezeichnet, dann z.B. mit dem Prädikat „tragisch“ / „dionysisch“ (EH, Die Geburt der Tragödie 3, Vorwort 2).
[6] Eine Kritik, die schon Schopenhauer gern übte. Vgl. die Antimetabole „[i]n der Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren“ – Arthur Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Werke I, S. 51. Schopenhauers Werke zitiere ich nach der Ausgabe von Arthur Hübscher (Hg.), Sämtliche Werke, 4. Auflage, 7 Bände, Mannheim 1988.
[7] Wolfgang Janke, Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre, Amsterdam / New York 2009, S. 5.
[8] Der bedeutendste Umbruch im Denken des 19. Jahrhunderts ist aus meiner Sicht die Klärung des Verhältnisses von Wert und Theoriebildung. Die Annahme bestimmter Werte fordert die Ausarbeitung und Akzeptanz bestimmter Theorien, die zu diesen Werten passen. Aus der Verschiedenheit der möglichen Wertehierarchien erwächst auch ein entsprechender Multiperspektivismus. Nietzsche hat zwar, wie auch die Lebensphilosophie und philosophische Anthropologie, einen großen Beitrag zu diesem Verständnis geleistet, aber auch die gegnerische Bewegung, zum Teil der Deutsche Idealismus, insbesondere durch J.G. Fichtes Philosophie, sowie der Neukantianismus gingen dieser Frage auf systematische Weise nach.
[9] Vgl. Schopenhauer, Über den Willen in der Natur. Eine Erörterung der Bestätigungen, welche die Philosophie des Verfassers, seit ihrem Auftreten, durch die empirischen Wissenschaften erhalten hat, Werke IV [1].
[10] Vgl. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel, S. 52.
[11] Der Wille zum Leben drückt sich aus Nietzsches Sicht in gesunder Lebensweise aus. Dahinter stehe das Selbsterhaltungsprinzip – der biologische Egoismus.
[12] Im Abschnitt „Die ‘Vernunft’ in der Philosophie“ der Götzen-Dämmerung findet man eine gute Übersicht über die über das ganze Werk von Nietzsche verstreuten Kritikpunkte an traditioneller Philosophie (GD, Die „Vernunft“ in der Philosophie). Diese Kritikpunkte gegen die klassische Philosophie und den Deutschen Idealismus wurden vielfach von den Vorgängern und Nachfolgern Nietzsches wiederholt. So hat zum Beispiel Karl Löwith in seiner Dissertation im Anschluss an Feuerbach die Vernachlässigung der Rolle des Mitmenschen bei Hegel kritisiert – Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Bd. I, S. 9-198. Löwiths Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Klaus Stichweh (Hg.), Sämtliche Schriften, Stuttgart 1981. Ob die Einwände solcher Art im Detail tatsächlich berechtigt sind, erscheint oft als fraglich und es bedarf einer genauen Prüfung.
[13] Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Dritter Teil, die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, W 10, S. 9-13. Hegels Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Eva Moldenhauer / Klaus Michel (Hg.), Werke [in 20 Bänden], Frankfurt am Main 1986. Alle drei Formen arbeiten mit einem starren, toten Geist und erfassen ihn jeweils einseitig und nicht in seiner wahren ganzen Lebendigkeit, in der er als Begriff erscheint. Der subjektive Geist, mit dem sich diese drei Arten der Psychologie beschäftigen, solle daher mithilfe des sich entwickelnden Begriffs im Ganzen erfasst werden.
[14] Ich spiele auf die Selbstbeschreibung Nietzsches als Psychologe aus Jenseits von Gut und Böse an (JGB 295; vgl. auch EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 6).
[15] „Kant – ein geringer Psycholog und Menschenkenner; […] Moral-Fanatiker à la Rousseau mit unterirdischer Christlichkeit der Werthe; Dogmatiker durch und durch […]“ (Nachlass 1887, 9[3], KSA 12.340). Man kann diese Aussage Nietzsches als direkte Antwort auf eine Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft lesen, in der Kant von der geheimen und bewundernswürdigen Rücksicht eines jeden Menschen (selbst eines Verbrechers) auf das moralische Gesetz spricht, was sogar in psychologischer Absicht zur Menschenkenntnis bemerkenswert sei – vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 81. Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe (=AA) zitiert: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Kants gesammelte Schriften, Berlin 1902ff. Zum besseren Verständnis dieser Stelle vgl. ebenda, 76f: „Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden“. Vgl. auch die diesbezügliche Polemik ad hominem in Jenseits von Gut und Böse – „[…] manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: ‘was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann – und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!’ […]“ (JGB 187).
[16] „[…] sie [meine Bücher] erreichen hier und da das Höchste, was auf Erden erreicht werden kann, den Cynismus; […]“ (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 3). Die Rede vom Zynismus ist an dieser und ähnlichen Stellen Nietzscheanisch zu verstehen, d.h. die Vernichtung irgendeines Wertes, selbst die Einsicht in die vollkommene Wertlosigkeit des Lebens, ist zunächst noch kein Einwand gegen das Leben selbst.
[17] Ein beinahe allgemeiner Zug der Lebensphilosophie, Phänomenologie, philosophischer Anthropologie, aber auch z.B. der Sprachkritik des Wiener Kreises.
[18] Man muss vielleicht zwischen der reinen Möglichkeit der Entwicklung eines metaphysischen Systems und der Methode sowie der Absicht des Autors unterscheiden. Es ist eventuell möglich, den Willen zur Macht als eine metaphysische Annahme zu denken, als eine Weiterbestimmung der Schopenhauer’schen Willensmetaphysik. Der Aphorismus 36 aus Jenseits von Gut und Böse ist ein anschauliches, von Nietzsche selbst gegebenes Beispiel dafür, wie man die Welt, „von innen gesehen“, auf das Grundprinzip des Willens zur Macht reduzieren kann (JGB 36). Ausdrücke wie „gesetzt“ und Verben in der Form des Konjunktivs II wie „wäre“, „fände“ und „hätte“ verweisen jedoch darauf, dass es sich um ein bloßes Gedankenexperiment handelt, um einen „Versuch“. Ob und wie die Reduktion tatsächlich und ins Detail gehend funktionieren kann, interessiert Nietzsche nicht. Als Metaphysik- und Systemkritiker darf er nur im Medium des Gedankenexperiments bleiben, denn sonst geriete er in einen performativen Selbstwiderspruch.
[19] Dies hat Müller-Lauter in Verbindung mit seiner Kritik an Heideggers Nietzsche-Verständnis gezeigt – vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche: seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin 1971, S. 29-33. Heidegger nimmt nämlich an, dass Nietzsches Denken in der metaphysischen Tradition des Abendlandes seit Platon stehe und er den Grundcharakter alles Seienden schlechthin als Wille zur Macht bestimme – vgl. Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. II, 5. Auflage, Pfullingen 1989, S. 257 fff. Hinter Nietzsches Vielheit der Willen zur Macht muss aber nach Müller-Lauter nicht unbedingt eine Einheit angenommen werden. Anders nimmt Colli an, dass eine Zurückführung auf eine einzige Wurzel von Nietzsche selbst vollzogen wird. Diese Wurzel sei jedoch „vielgestaltig“ – vgl. Giorgio Colli, Nachwort (zuerst veröffentlicht im Jahr 1968), in: KSA 5, S. 415-421, S. 415. Damit scheint er den oben in der Fußnote erwähnten Aphorismus 36 nicht als ein Gedankenexperiment, sondern als einen Systementwurf zu interpretieren, was aus meiner Sicht der Absicht und den sprachlichen Signalen Nietzsches widerspricht.
[20] Der Perspektivismus soll nicht in eine objektive Einheit münden und eine zwingende Hierarchie bilden – zum Perspektivismusproblem vgl. Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus. Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, Tübingen 1990.
[21] Die Philosophie wird dabei von Nietzsche als der geistigste Wille zur Macht verstanden, als Wille, causa prima zu sein und eine Welt für sich zu erschaffen, eben darum als ein zur Tyrannei neigender und gefährlicher Trieb (JGB 9).
[22] Vgl. Kant, KpV, AA V, S. 13: „und so offenbart sich der allgemeine Empirism als den ächten Skeptizism […]“ Vgl. auch z.B. Fichtes Rede vom „alten empirischen Dämon“, der kommt, um apriorische Einsichten abzuweisen, bis es gelingt ihn vollständig zu töten – Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804, GA II/8, S. 40. Fichtes Werke werden zitiert nach der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Rainhard Lauth / Hans Jacob u. a. (Hg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff.
[23] Fichte behauptet z.B., dass weder Descartes noch Reinhold, der die Hauptresultate der Kantischen Philosophie aus einem Basissatz ableiten wollte, bei der Aufstellung ihres höchsten Punktes radikal genug von der Sinnlichkeit und den Vorstellungs- und Denkakten abstrahiert haben. Sie seien nur beim Faktum ihres jeweiligen höchsten Prinzips stehen geblieben – vgl. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer (1794), GA I/2, S. 262 ff; ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Abstraktion funktionieren soll, findet man bei Fichte, Vergleichung des vom Herrn Professor Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre, GA I/3, S. 259. Über dem Faktum stehe aber etwas Tätiges, was es überhaupt aufstellt und anerkennt. Dieses Etwas als Tätiges lasse sich nur in seinem Medium gewiss machen und festhalten, als Tätigkeit qua Tätigkeit, als Tathandlung, Sichselbstsetzung des (überindividuell geltenden, weil abstrakt gehaltenen) Ichs bzw. der Vernunft. Aus dieser Tathandlung lasse sich ohne Beihilfe der induktiv-sinnlichen Methode, rein mit deduktiv-logischen Werkzeugen dasjenige notwendig ableiten, wovon abstrahiert wurde – denn soll sie, mithin der Grund unseres Bewusstseins und Wissens, sein, dann müsse alles das notwendig sein, was auf sie verweist und was lediglich darum von ihr abgezogen wurde, um sie als Anfangspunkt des vollständigen und wissenschaftlichen Überblicks über die Funktionsweise und die Gegenstände des Bewusstseins zu erhalten. Zur Seite der Funktionsweise gehören z.B. die Ableitung des Imaginationsvermögens und der Gefühle, die der Leib erfahren kann. Zur Seite der Gegenstände die Religion, Moralität (Verwirklichung von Idealen, wozu auch die Kunstwerke als Mittel fungieren), Legalität (Recht und sittliche Gesetze) und Sinnlichkeit, von sinnlichen Erkenntnissen bis hin zum Alltagsleben und sinnlichen Genuss: Alle Formen des Lebensvollzugs, dessen, was bewusst und zum Gegenstand der einzelwissenschaftlichen Untersuchungen gemacht werden kann, sind damit auf eine genetisch-deduktive Weise zusammenhängend porträtiert – vgl. zur Frage, ob es wirklich „alle“ sind, meinen bald erscheinenden Aufsatz „Der Stachel der Selbsttätigkeit und das Verbrauchen der Freiheit. Zur Vollständigkeit der fünf Weltansichten beim späten Fichte“. Damit fängt Fichtes Philosophie mit der radikalsten Form von Skeptizismus an, vor der es sogar „denjenigen, die bisher mit allerhand Skeptisirerei zum Zeitvertreibe gespielt haben, grauen dürfte, und sie schreien würden: der Spaß gehe doch zu weit!“ – Fichte, Zweiter Vortrag im Jahre 1804, GA II/8, S. 208 –, und es schlägt bei der Auffindung dessen, wovon nicht mehr abstrahiert werden kann, die Tätigkeit, das Leben, das selbst hinter dem Abstraktionsakt steht, in eine methodische Affirmation und Durchdringung dessen um, wovon abstrahiert wurde.
[24] Vgl. Hegel, Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin (Einleitung zur Enzyklopädie-Vorlesung), 22.Okt.1818, W 10, S. 399-417.
[25] Vgl. Fichte, Zweiter Vortrag im Jahre 1804, GA II/8, S. 410-421 und ders., Die Anweisung zum seligen Leben, GA I/9, S. 47-193.
[26] Er trifft, in Nietzsches eigenen Worten, ihre Maske: „um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt“ (JGB 40).
[27] Vgl. Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 2011, S. 80. So soll die Lösung des Problems der Besessenheit, des Denken-Müssens, auch der Kritik des Denkens, nicht mit dem Denken selbst gelöst werden: „Ich aber sage, nur die Gedankenlosigkeit rettet Mich wirklich vor den Gedanken.“ – ebenda, S. 164.
[28] Nietzsches Denken erscheint nach meiner Interpretation weder als Wissenschaft noch als bloße Literatur, es ist jenseits des strikt logischen Argumentierens, aber auch nicht auf bloße Rhetorik reduzierbar. Ferner sind seine Werke weder eine Fortführung der philosophischen Tradition noch ein wirklich radikaler oder „revolutionärer Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts“ (vgl. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. IV, S. 1-491).