Lewin, M. 2021. Hartmut von Sass (Hg.): Perspektivismus. Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik, Meiner: 2019, Philosophische Rundschau 68/1, 63-69. 

https://doi.org/10.1628/phr-2021-0009.

 

Sass, Hartmut von (Hg.): Perspektivismus. Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik. Hamburg: Meiner 2019. 287 S.

 

Perspektivismus qua ein methodologisch-systematisches, einzelne philosophische Positionen übergreifendes Forschungsprogramm wurde explizit vom deutschen Philosophen Friedrich Kaulbach[1] (1990) in Münster entworfen. Er begriff darunter nicht ein Gedankengut, das allein Nietzsche, Hegel, Kant oder Leibniz gehörte, sondern, wie Kant sich ausdrücken würde, eine „Denkungsart“, bei der solche Begriffe wie Perspektive, Standpunkt, Blickwinkel, Sichtweise und Weltsicht regelmäßig und erfolgreich eingesetzt werden. Der so verstandene Perspektivismus ist eher eine methodologische Position – die Schlüsse, die aus dem erkannten Umstand der Standpunktbezogenheit der Perspektiven gezogen werden, können ganz unterschiedlich ausfallen (etwa bei Nietzsche im Gegensatz zu Hegel). Ein nicht mehr erschienener zweiter Band der Philosophie des Perspektivismus sollte im Anschluss an philosophiehistorische Untersuchungen des ersten Bandes eine systematisch-methodologische Abhandlung enthalten.

     Seit der Gedenkschrift Perspektiven des Perspektivismus[2] zum Tode von Kaulbach vergehen 27 Jahre, bis überraschenderweise ein auf eine Tagung zurückgehender Sammelband mit Aufsätzen zum überwiegenden Teil von schweizerischen Autorinnen und Autoren erscheint und eine Erneuerung und Weiterentwicklung dieser bedeutenden Denktradition verspricht.[3] Perspektivismus. Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik scheint ein Zeichen dafür zu sein, dass der Lichtfunken, den Kaulbach hatte, in tiefer Stille fortgelebt hat, um mit neuen Kräften und Erfahrungen wieder an die Oberfläche zu gelangen. Kaulbach war aber nicht der Einzige, der das einzelne Positionen übergreifende systematische Potential des Begriffs Perspektive entdeckt hat – so hat der Kunstwissenschaftler Erwin Panofsky im Jahr 1927[4] die These vertreten, die dann von Jean Gebser in Ursprung und Gegenwart[5] (erstmals im Jahr 1949 veröffentlicht) aufwendig weiterentwickelt und überboten wurde, dass die wahrnehmungstechnische Aufarbeitung der Perspektivität schließlich auf die Philosophie übersprungen ist: Ohne intensives Bewusstwerden der Perspektive in der Renaissance, die in der Kunst und in theoretischen Abhandlungen etwa von Leonardo da Vinci und Alberti Niederschlag findet, keine Subjektivitätsphilosophie, keine moderne Philosophie und ihre Nachfolgerinnen. Beide Autoren werden von keinem Beitragenden des jetzigen Sammelbandes erwähnt, und das ist nicht der einzige Kritikpunkt, den ich bringen werde. Bevor ich mich im zweiten Teil der Rezension frage, 2.) wie perspektivistisch der Perspektivismus der Autoren und Autorinnen ist, wende ich mich auch zahlreichen positiven Seiten des Bandes zu, der Durchleuchtung unterschiedlicher 1.) Aspekte des Perspektivismus.

 

1.) Aspekte des Perspektivismus

 

Ohne dass es explizit ausgesprochen wird, bildet der Band bei genauerer Betrachtung eine Mischform aus theoretischen Untersuchungen zum Perspektivismus einerseits (auf die ich mich bei der folgenden Darstellung besonders fokussieren werde) und „angewandtem“ Perspektivismus andererseits, d. h. Beiträgen, deren Autorinnen und Autoren eine gewisse Affinität zum perspektivistischen Denken und Vokabular zeigen, ohne sich einem bestimmten theoretischen Rahmen zu verpflichten oder ohne ihn kenntlich zu machen. Er besteht aus drei Abschnitten, I. Standortgebundenheit. Zum epistemischen Perspektivismus, II. So – und anders verstehen. Hermeneutischer Perspektivismus und III. Konflikte und Dilemmata. Perspektivismus aus ethischer Sicht, denen jeweils drei (dem letzten Abschnitt: vier) Beiträge untergeordnet sind. Ihnen ist ein Einleitungsaufsatz des Herausgebers vorausgeschickt, der die Hauptlast der theoretischen Begründung des Konzepts Perspektivismus trägt, die von vier nachfolgenden Aufsätzen mehr oder weniger mitgetragen wird, bis sie dem Fokus nach literatur-, religions-, moral-, gesellschafts- und politiktheoretischen und -philosophischen Analysen weicht. In den beiden letzten Aufsätzen taucht sie nur teilweise wieder auf.

 

1. a) Einleitungsaufsatz von Hartmut von Sass

 

Alles nur eine Frage der Perspektive? Hartmut von Sass stellt in seinem Einleitungsaufsatz Perspektiven auf die Perspektive (9-33) fest, dass dieser alltagspraktische Ausspruch Einiges verdunkelt, was einer tiefgreifenden philosophischen Untersuchung des Perspektivismus nicht entgehen kann. Nicht nur Erkenntnissubjekte können Perspektiven einnehmen, auch Objekte setzen je nach ihrer besonderen Beschaffenheit unterschiedliche Perspektiven frei, die gelegentlich auch intersubjektiv übereinstimmen. Der Perspektivismus stehe somit nicht unbedingt für einen Konstruktivismus, sondern könne auch in die Nähe eines Realismus gerückt werden. Sowohl der Realismus als auch etwa der Konstruktivismus oder Relativismus, dem oft (vielleicht zu Unrecht) Beliebigkeit vorgeworfen werde, haben nun aber den Perspektivismus – der ebenso wie sie die Standortgebundenheit analysieren will – zu lange überschattet, und es lohne sich, ihn als ein eigenständiges und nicht auf benachbarte erkenntnistheoretische Positionen reduzierbares Projekt ans Licht zu stellen (12-16). Von Sass unterscheidet in seinem Beitrag zum einen drei Kontexte, in denen ein Perspektivismus nutzbringend sein kann, was sich in der Einteilung des Sammelbandes widerspiegelt. Zum anderen sammelt er logisch zusammenhängende Aspekte und Funktionen rund um die Begriffe Perspektive und Perspektivismus. So bestimmt er zunächst „sechs Zutaten“ (16-17), die mit dem Konzept Perspektive mitgedacht werden, und die zusammengenommen eine Definition des „Lehrstücks“ Perspektivismus ergeben:

 

Erkennen, Verstehen und Handeln sind zumeist perspektivisch strukturiert, indem Perspektiven bestehend aus Vorannahmen, Medien und Erwartungen ein indexikales Muster aufspannen, das sich im Akt des Erkennens, Verstehens und Handelns verändern kann. Obgleich Perspektiven von einem Träger abhängen, kann es dabei der Gegenstand selbst erfordern, multi-perspektivisch betrachtet, verstanden oder bewertet zu werden. Der Perspektivismus endet dort, wo eine Perspektive exklusiv wird und Alternativen ausschließt. (17)

 

Darauffolgend (18-32) unterscheidet der Herausgeber die Quellen der Perspektivendifferenzen, die Vor- und Nachteile der (unhintergehbaren (9, 21)) Perspektivität und der perspektivistischen Erkenntnisse sowie ihre Grenzen. Mit der Coda „Zeitalter der Perspektive“ (32-33) wird schließlich die Auseinandersetzung mit dem Perspektivismus eingeläutet.

 

1. b) Erkenntnistheoretischer Perspektivismus

 

Der zweite Aufsatz widmet sich demjenigen Philosophen, der sich in der Philosophiegeschichte vielleicht als Erster explizit als Perspektivist begriffen hat: Nietzsche.[6] Markus Wild (37-60) plädiert in ihm für eine psychobiologische Deutung des Nietzscheanischen Perspektivismus und setzt sie einer in der Forschung geläufigen und „überintellektualisierenden“ (51) erkenntnistheoretischen oder interpretationistischen (41) Lesart entgegen. Die psychobiologische Deutung, die Organe und Triebe als Akteure der Perspektivierung und Weltauslegung begreift, entgehe epistemischen und normativen Spannungen (42-44), etwa dem aus den Relativismus-Debatten bekannten Selbstwiderlegungseinwand, der auch gegen einen epistemologischen Perspektivismus gewandt werden könne. Sie erkläre auch, in Verbindung mit der Lehre von der Gesundheit der Triebäußerungen, warum Nietzsche sich trotz eines „Perspektivismus“ abwertende Urteile über bestimmte Denk- und Handlungsformen erlaubt hat (53-58).

     Niko Strobach (61-75) argumentiert im Anschluss, dass Nietzsche einer der wenigen Denker sei, die den Begriff Perspektive erfolgreich metaphorisch verwenden – denn er sei ein Realist (62).[7] Die Perspektivenmetaphorik scheitere hingegen und führe dort zu unnötigen philosophischen Verwirrungen (64), wo sie „überzogen“ wird, d. h. wo der wahrnehmungstechnische und realistische Bezug nur noch kaum bis gar nicht erkennbar wird. Als Beispiele für überdehnende und scheiternde Inanspruchnahme der Metapher Perspektive führt er Kaulbach (61, Fußnote 2), Leibniz und Russell (67-71) an. Dort könne man sich kaum noch vorstellen, was Perspektive mit der Perspektive im eigentlichen Sinne zu tun hat.

     Holm Tetens (77-91) stellt im Rückgriff auf Kurt Hübners These, dass die Realitätserscheinung und -erkenntnis sich nicht in Theorien (etwa der Form „x ist der Fall“), sondern Metatheorien („x ist der Fall unter Rahmenbedingungen y, z etc.“) vollziehe, einen aspektivistischen Perspektivismus vor. Ausgehend von dieser These müsse man nämlich einräumen, dass Wirklichkeitserfahrungen von Rahmenannahmen abhängig sind, die sich unterscheiden und darum nur verschiedene Aspekte der Realität, und sie nicht als Ganzes beleuchten (81). Das aus dieser Einsicht von Hübner erschlossene Toleranzprinzip, nach dem alle Hintergrundannahmen grundlegend zu akzeptieren sind, erklärt der Autor jedoch schlechthin für falsch (84). Es gebe Positionen, die Selbstreflexion und Toleranz ausschließen, etwa der mythische griechisch-römische Götterglaube, und die als rückschrittlich erklärt werden dürfen (88-89). Man könne – so das Selbstanwendungsproblem (84-86) in wenigen Worten – nicht für Toleranz plädieren und gleichzeitig intolerante Perspektiven tolerieren. Daher beschließt Tetens am Ende seines Aufsatzes: „Perspektivismus ist ein Realismus, der nicht erkenntnistheoretisch naiv daherkommt, sondern sich auf der Höhe wichtiger Einsichten der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie befindet“ (91).

 

1. c) Hermeneutischer Perspektivismus

 

David Weberman (95-112) entwirft einen sich gegen den Absolutismus wendenden hermeneutischen Perspektivismus in der Tradition Heideggers und Gadamers. Dieser stehe im Gegensatz zum epistemologischen Perspektivismus vor der Herausforderung, auch „Sub-Propositionales“ (101), die Vor-Struktur des Erkennens thematisieren zu müssen, die sehr unüberschaubar und vielfältig sei. Die „Determinanten perspektivischer Differenzen“ (99) seien nicht nur Triebe und Affekte,[8] theoretische Rahmenbedingungen oder Paradigmen, sie umfassen auch sehr unterschiedliche fein gewobene Formen der Situiertheit und Weltauslegung (der Interpretation von etwas als etwas), die geschichtlich und kulturell bedingt sind. Dieser Schwierigkeit ausgesetzt, laufe die Hermeneutik Gefahr, alles im Ungefähren zu belassen und keine festen Wahrheitskriterien angeben zu können (103). Demgegenüber macht Weberman ein Bestehen sinnstiftender Schemata geltend, die, sobald sie etabliert sind, der hermeneutischen Perspektivistin erlauben, Wahres vom Falschen zu unterscheiden, so wie es sonst ein „Non-Perspektivist“ (105) gewöhnlich tut.

     Der darauffolgende Beitrag von Andreas Mauz (113-152) kommt dann wie ein großer Tapetenwechsel. Man sucht vergebens nach einer These zum Perspektivismus: der Zweck des Aufsatzes ist ein informativer Überblick über narratologische Perspektiventheorie (119) – ein „Theorietableau“ (130) zu literaturtheoretischen Analysen der Erzählperspektiven, das anhand eines konkreten Beispiels (Schenkels Tannöd (134-148)) erörtert wird.

     Johanna Breidenbach (153-181) eröffnet im Anschluss eine religionsphilosophische Perspektive auf den Perspektivismus. Interessant ist der Aufsatz zum einen darum, weil er die Möglichkeit eines sich sprunghaft vollziehenden Perspektivenwechsels thematisiert, was sich in Gebeten vollziehen kann, etwa der radikale Blick auf das Ganze (154-155). Zum anderen macht er deutlich und anhand der Autobiografie Herta Müllers (156-160) und Cusanusʼ De visione Dei (165-178) anschaulich, dass das Optische, das mit dem Wort Perspektive verbunden wird, auch lediglich als ein Auslöser oder eine Leiter zum Akustischen, zum Sich-Hören und Einander-und-Gott-Hören im Gebet fungieren kann, was eine andere Form der Selbstreflexion mit sich bringt.

 

1. d) Moralischer Perspektivismus

 

Mit Véronique Zanetti (185-209) steigen die Leserinnen und Leser in die moralisch-relevanten Kontexte des Perspektivismus ein und bemerken vielleicht eine Grenze des Perspektivischen. Zanetti argumentiert dafür, dass bestimmte seltene Fälle moralischer Entscheidungen, wie sie sich ausdrückt, „nicht Perspektiven-abhängig“ (196) seien: Dilemmata, bei denen lediglich zwei Handlungsoptionen (so oder anders handeln) offen sind (188). Dilemmata führen die Frage nach moralischer Verpflichtung ins Leere, während moralische Konflikte und aus ihnen resultierende Entscheidungen durchaus perspektivisch beurteilbar sind (197) und gelegentlich zu „schmutzigen Händen“ führen.

     Anton Leist (211-242) stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Wertepluralismus und alltäglicher Konformität zu denken ist und wirft mehrere Unterscheidungen auf (ähnlich wie Mauz entwirft er keine eigenständige These zum Perspektivismus). Er vertritt dabei die Ansicht, dass beides miteinander verträglich sei – einige Handlungen lassen sich zwar nicht kontrollieren, das spreche aber per se nicht gegen den Wertepluralismus (212).

     Christine Abbt (243-261) analysiert die Rahmenbedingungen, unter denen regelmäßiger Vollzug von Perspektivenwechsel zu (erwünschter) pluralistischer Offenheit führt.[9] Sie stellt fest, dass die Übernahme fremder Perspektiven eine bedeutende moralische Rolle sowohl bei Kant als auch Hume und Diderot spiele (250), und thematisiert die herausragende Funktion der Kunst und der Künstler. Bemerkenswerterweise räumt sie sofort am Anfang mit einem beliebten Vorurteil der Kant-Kritiker auf (246-250): Auch Kant plädiert im Kontext der Anthropologie für einen Pluralismus und für eine Dezentrierung der egoistischen Natur, die in starren Perspektiven gefangen bleibt.

     Dieter Thomä (263-286) behandelt die Rolle des Störenfrieds in gesellschaftspolitischen Zusammenhängen im Ausgang von Mill und Nietzsche. Dabei zeichnet er drei Perspektivismusarten (P) in Nietzsches Denkweg nach.  (P1) klingt wie eine Binsenwahrheit: „Jeder hat seine Sicht der Dinge, es gibt eine Vielfalt von Perspektiven“ (263), finde aber Niederschlag und philosophische Ausdifferenzierung in Nietzsches frühen Werken. Revidiert werde sie mit der Einsicht in die Borniertheit dieser Feststellung – nicht eine gewohnte subjektive Perspektive, sondern (P2) die Pluralität der Sichtweisen werde dem Gegenstand gerecht (264-267). Diese „pazifistische“ Spielart des Perspektivismus werde nur noch durch eine (P3) agonale überboten, bei der radikale Konflikte unter Perspektiven und Asymmetrien zwischen herrschendem Diskurs und Abweichung begrüßt werden (268-271). Vor diesem Hintergrund habe Nietzsche den Störenfried, anders als Mill, von der Rechtfertigungspflicht im Hinblick auf seine Handlungen befreit: „Er kann durchdrehen“ (283). Diese Erlaubnis sei jedoch kritisch zu hinterfragen (285-286).

 

2.) Wie perspektivistisch ist der Perspektivismus der Autoreninnen und Autoren?

Vielleicht gibt es keinen objektiven Maßstab zur Bestimmung der theoretischen Tiefe der Perspektivität, doch könnte man dafür argumentieren, dass derjenige Perspektivismus perspektivistischer ist, der (quantitativ) mehr Hinsichten hinzuschaltet und (qualitativ) gelenkiger, spielerischer, offener, spontaner und reflektierter ist. Wie bereits am Anfang erwähnt, fehlen im Band zwei Autoren, die in der Perspektivismus-Forschung nicht unbeachtet bleiben dürfen. Die Etymologie des Begriffs Perspektive (lat. perspicere = hinsehen, hineinschauen), der Durchsehung (Dürer), sowie die kunsthistorische Studie von Panofsky (sowie Gebsers Nachzeichnung des historischen Bewusstwerdens der Perspektive) könnten etwa Zweifel an der realistischen Unschuld des Begriffs, wie sie im Aufsatz von Strobach qua „Grundbedeutung“ (62 und 66) vorausgesetzt wird, erregen. Das Konzept Perspektive ist selbst schon eine Verzerrung, eine symbolische Form (Panofsky). Dass sie in nicht-realistischer Philosophie nicht zugelassen werden dürfe, nur weil sie verwirren könnte (64), klingt nicht wie ein gutes Argument. Es gibt Fälle, die stark desorientierend wirken, etwa Zanettis Aussage, Dilemmata seien „nicht Perspektiven-abhängig“ (196). Doch sie sind durch wesentlich mildere Mittel als Einschränkung des Sprachgebrauchs heilbar: Die Autorin könnte erklärt haben, was sie hier genau meint, denn selbst in Dilemma-Situationen muss doch wenigstens irgendeine (wenn man will, moralisch-irrelevante) Form der Perspektivität mitspielen. Ob hingegen ein komplett unperspektivischer Weltzugang oder Handlungsvollzug überhaupt möglich ist, ist sehr diskussionsbedürftig. Von Sass nennt einige Beispiele, die (m. E. nur scheinbar) an die Grenzen des Perspektivischen führen: Hat etwa der Schmerz im rechten Kniegelenk etwas mit der Perspektive zu tun? (29) Interessant wäre es, wenn an dieser Stelle ein Gespräch mit Gebser und seinen Konzeptionen des Vor- und Unperspektivischen gesucht würde. Im Zuge dessen könnte man auch auf eine tiefgreifende Kritik am perspektivischen Denken stoßen, die er vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege entwickelt hat. Das Perspektivische steht für Gebser für das, was Fichte in gewisser Weise als Grundzug seines Zeitalters und Hegel als „verständiges“ Denken wiedergeben würde. Es steht für ein Gefangensein in raum-zeitlichen Strukturen, im dreidimensionalen Sehdreieck und in der Entweder-Oder-Logik, die Spalterei, Ungelenkigkeit und Härte im Urteilen mit sich bringt. Dem Perspektivischen ist nicht nur das Unperspektivische, sondern auch ein höherwertiger Perspektivismus, ein Aperspektivismus entgegengesetzt, eine integrale, dieses Gefangensein überwindende Bewusstseins- und Denkform.

     Hier will ich meine Hauptkritik am Sammelband ansetzen. Sicherlich gibt es eine Philosophie des Perspektivismus (Kaulbach), doch gibt es DEN Perspektivismus, wie der Titel des Sammelbandes suggeriert? Die Autorinnen und Autoren haben zwar den Perspektivismus den Einsatzfeldern nach ausdifferenziert, ähnlich wie in der Relativismus-Forschung: So gibt es nun einen erkenntnistheoretischen, hermeneutischen, moralischen und politischen Perspektivismus (parallel zum Relativismus). Was im Dunkeln geblieben ist, sind aber subtile Unterschiede zwischen dem Perspektivismus qua Methode und diversen Folgerungspositionen aus der Reflexion auf die Perspektivität. Diese sind bei Kaulbach erkennbar: Ein logisch verzweigtes perspektivisches Vokabular dient als Gegenstand und Analysetool; dass ein Autor die Welt als ein absolutes Ganzes der koordinierten Perspektiven ansieht oder als ein Werk der Triebe, hat das Vokabular aber allein nicht zu verantworten – der Perspektivismus ist in Verbindung mit weiteren Annahmen frei ausformbar. Aus methodologisch-perspektivistischer Sicht kann dieser dann, je nach der angenommenen Form, entweder als objektiver, subjektiver, integraler etc. gekennzeichnet werden. Macht man diesen Reflexionsschritt nicht mit, dann läuft man Gefahr, seine Version des Perspektivismus für DEN Perspektivismus auszugeben, d. h. seine Ansprüche zu verabsolutieren.

     Die Autorinnen und Autoren sind diesen Schritt leider nur ansatzweise gegangen (etwa hier: 27-28 und 96-97). Der Gesamteindruck ist eher, dass der Band vielleicht mit Realistischer Perspektivismus: Neue Beiträge aus der Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik überschrieben werden sollte. Die im Einleitungsaufsatz eigens betonte Nähe zum Realismus spiegelt sich in beinahe allen Beiträgen explizit wider, in einem wird er sogar mit Perspektivismus gleichgesetzt (91). Auch das angestrebte Bündnis mit der Phänomenologie, Hermeneutik und „postmetaphysischem Denken“ (15-16), das die Frage nach absoluter Perspektive (etwa bei Hegel) und idealistische Philosophie ausschließen oder zumindest vernachlässigen will, ist m. E. ein Zeichen, dass solcher Perspektivismus etwas an der Perspektivität verloren hat, die er vielleicht noch bei Kaulbach hatte – er ist nicht mehr so offen und methodologisch, sondern nur noch realistisch.[10] Gleichwohl hat er dank der Analysearbeit des Herausgebers und der Mitautorinnen und Autoren mehrere neue Unterscheidungen und Schattierungen bekommen.

     Auch einige Thesen einzelner Aufsätze könnten etwas perspektivistischer ausfallen, insbesondere in Bezug auf Nietzsche. Bedauernswerterweise werden von mehreren Autoren dieselben beliebten zwei, drei Textstellen angeführt, die auch gelegentlich in Relativismus-Debatten auftauchen.[11] Das könnte der Grund dafür sein, warum Wilds Gegensatz zwischen zwei Perspektivismus-Deutungen auf keine Synthesis-Überlegungen stößt, und warum Thomäs Unterscheidung von P(1)-(3) idealtypisch-konstruiert wirken könnte.

     Trotz dieser Kritik und entdeckten meta-theoretischen Schwächen mag man im diskutierten Sammelband einen sehr bedeutenden Beitrag zur Philosophie sehen, an dem niemand, der zum Perspektivismus oder benachbarten Themen, Realismus und Relativismus, arbeitet, vorbeikommen kann. Man lernt durch gut aufeinander abgestimmte Aufsätze – die zusammen eine Mischform aus theoretischen Überlegungen zum Perspektivismus und angewandtem Perspektivismus bilden – sukzessiv neue interessante Aspekte der Perspektivität kennen: Die Lektüre kann insgesamt sicher sehr empfohlen werden.

 

Michael Lewin

Academia Kantiana, Immanuel Kant Baltic Federal University, Kaliningrad, Russia

Bergische Universität Wuppertal

Universität Koblenz-Landau

michael.lewin.di@gmail.com

https://orcid.org/0000-0002-5097-5725

 

[1] Friedrich Kaulbach: Philosophie des Perspektivismus. 1.Teil. Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, Tübingen 1990: Mohr Siebeck.

[2] Volker Gerhardt/Norbert Herold (Hg.): Perspektiven des Perspektivismus. Gedenkschrift für Friedrich Kaulbach. Würzburg 1992: Königshausen und Neumann.

[3] Sie wurde in der Zwischenzeit zum Teil von Nietzsche-Interpreten sowie insbesondere von Werner Stegmaier fortgeführt, der insbesondere im sechsten Kapitel seiner Philosophie der Orientierung (2008) den Begriff Perspektive in ein logisches Gefüge aus verwandten und aufeinander verweisenden Konzepten einbettet.

[4] Erwin Panofsky: „Perspektive als ‚symbolische Form‘“, in: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer u. Egon Verheyen, Berlin 1980: Verlag Volker Spiess, S. 99-167.

[5] Jean Gebser: „Ursprung und Gegenwart“, in: Gesamtausgabe in acht Bändern, Bände 2-4, Schaffhausen 21999: Novalis.

[6] Werner Stegmaier: Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008: de Gruyter, S. 198.

[7] Dabei folgt er (71-75) eher der von Wild gerade kritisierten epistemologischen Deutung.

[8] Auch bei Weberman macht sich wieder eine epistemologische Deutung des Perspektivismus bei Nietzsche bemerkbar (98), wie Wild sie kritisiert hat.

[9] Unter Perspektivität versteht sie, „dass es erkenntnistheoretisch keinen absolut neutralen Standpunkt gibt, von dem aus ein Gegenstand betrachtet und in seiner Gesamtheit erfasst werden könnte“ (244).

[10] Ich versuche hingegen den methodologischen Perspektivismus qua reflektierten Perspektivismus fortzuführen – vgl. Michael Lewin: Das System der Ideen. Die Begründung der Vernunft und das Problem der unterschiedlichen Ansprüche, Freiburg/München 2021: Alber.

[11] Hier wäre etwa die Stellensammlung von Jakob Dellinger („Perspektive/perspektivisch/Perspektivismus“, in: Nietzsche-Wörterbuch Online., hg. v. Paul van Tongeren, Gerd Schank u. Herman Siemens, Berlin/Boston 2011: de Gruyter) zu empfehlen.