Lewin, M. 2020. Brendan Theunissen, Hegels Phänomenologie als metaphilosophische Theorie. Hegel und das Problem der Vielfalt der philosophischen Theorien. Eine Studie zur systemexternen Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner 2014., Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte 11/1, 292-301. ISBN: 978-3-402-18979-5.39.
Eine Rezension schreibt man nicht ohne einen Grund. Entweder findet man Gefallen an dem Buch oder einer These, oder man will auf eigene Forschung verweisen oder man wird einfach danach gefragt. Mich haben vor allem zwei Gründe dazu bewogen, die schon vor sechs Jahren erschienene Arbeit von Brendan Theunissen zu besprechen. Zum einen kenne ich bisher nur zwei Rezensionen zu seinem Buch und finde, dass es bei der ambitionierten These, die bereits im Titel zu erkennen ist, zu wenig ist. Zum anderen will ich ausdrücklich darauf verweisen, dass Theunissen nicht nur eine philosophiehistorische Arbeit zu Hegel, sondern auch eine systematische Studie zur Metaphilosophie vorlegt. Damit bricht er ein viele Jahre langes Schweigen, das im deutschsprachigen Raum zu diesem Thema herrschte.[1] Da mir Karasek (2016)[2] und Feige (2017)[3] schon viele (Kritik-)Punkte in Bezug auf Theunissens Lesart der Phänomenologie des Geistes vorweggenommen haben, sich dabei aber nur spärlich zum metaphilosophisch-systematischen Teil der Argumentation äußerten, will ich mich im Folgenden stärker auf diesen fokussieren.[4]
Die Frage, welche Stellung die Jenaer Phänomenologie des Geistes (1807) im Gesamtwerk von Hegel einnimmt, wurde in der Forschung schon vielfach diskutiert und es liegen mehrere Antwortmöglichkeiten vor, auf die man zurückgreifen kann. Theunissen fragt sich aber insbesondere und gezielt, wie sie sich zu dem, was er als „Hegels System“ (9ff.) begreift, verhält. Darunter versteht er – als Leser muss man sich hier etwas gedulden – in seiner „Skizze des Hegelschen Systems“ (25-29) ein seit der Differenzschrift (1801) dreigeteiltes (Logik-Natur-Geist) ontologisch-monistisches Gebilde, das im Durchlaufen des Prozesses der Selbstentwicklung, -ausdifferenzierung und -reflexion dessen, was „als allein wahr und seiend gilt“ (28) (des Absoluten), entstehe. Das besonders Tückische an der Frage nach dem Verhältnis der Phänomenologie zum System, dessen sich Theunissen an dieser Stelle nicht bewusst zu sein scheint, besteht in den Ansprüchen des absoluten Idealismus. Aus der Sicht des Systems ist es egal, ob es sich bei der Phänomenologie um ein von einem bestimmten in Jena lebenden Hegel geschriebenes Buch von konkreter Seitenanzahl aus dem Jahr 1807 handelt, solange dort ein Set von Gedankenbestimmungen enthalten ist, das die sich entfaltende Idee, das Vernünftige, zum Ausdruck bringt. Entsprechend sind die einzelnen phänomenologischen Stufen in gekürzter und veränderter Form im dritten Teil der Enzyklopädie enthalten und schließen sich an das Ergebnis des Durchlaufens der Bestimmungen der absoluten Idee qua Freiheitsidee in der Anthropologie an – die sich von ihren natürlichen Gegebenheiten befreiende Seele, die ein Verhältnis zu einem Außen entwickelt, das ihr zunächst sinnlich gewiss ist. Solche Aussagen, wie die Phänomenologie könne „nicht als Systemdisziplin verstanden werden“ (9) könnten in diesem Zusammenhang verwundern. Doch Theunissen geht es gar nicht um diese Perspektive, er rückt vielmehr „endliche“ philologisch-historiographische Gesichtspunkte in den Vordergrund und betrachtet das System als eine Zielgröße in statu nascendi, die die ursprüngliche Idee, Aufgabe und Konzeption Phänomenologie des Geistes qua eines bestimmten Werks (im Folgenden Phänomenologie ausschließlich in dieser Bedeutung) plötzlich infrage stellt. Dadurch ergibt sich eine zu erklärende Spannung: (a) entweder ist die Phänomenologie ein systeminternes Unternehmen, d. h. sie nimmt bereits bestimmte Aufgaben vorweg, die später das System erfüllen wird (Theunissen erwähnt in diesem Zusammenhang Fulda und Förster), oder (b) sie ist systemextern und bereitet die Leser auf das System vor (Pöggeler und Hösle). Bei Hegel selbst findet man bisweilen sehr unterschiedliche Bemerkungen zur Rolle der Phänomenologie: sollte sie einst die Leser propädeutisch auf den Standpunkt des reinen Wissens und damit der Wissenschaft (der Logik) führen (die Leiter-Funktion), so werde sie nach einer späteren Einschätzung, auf die Werner Marx hinweist, gar nicht dafür benötigt – es genüge allein der „Entschluss, rein denken zu wollen“ (Enz. § 78).[5] Theunissens Grundthese besteht nun darin, dass die Phänomenologie sehr wohl eine relevante Funktion habe: sie stehe außerhalb des Systems und begründe dasselbe, indem sie die Wahrheitsansprüche der bisherigen philosophischen Standpunkte und Systeme als nichtig und beschränkt erweise. Damit scheint sich Theunissen in die Nähe einer in der Forschung (etwa von Klaus Vieweg) bereits vertretenen Position zu begeben: kommt ein Skeptiker und bestreitet die Hegel’schen Systemansprüche, so wirft man ihm die Phänomenologie des Geistes auf den Tisch.
Das Neue und Andere des Forschungsbeitrages von Theunissen ist nun aber die These, dass mit den einzelnen Bewusstseins- und Geistesgestalten der Phänomenologie nichts anderes als zu destruierende philosophische Theorien gemeint sind, die aus einer sich von ihnen qualitativ unterschiedenen metaphilosophischen Sicht geprüft werden. Obwohl ich mich der eingehenden Kritik von Karasek anschließen muss, dass Hegel – anders als Theunissen vorzuschlagen scheint – mit den einzelnen Stufen nicht ausschließlich philosophische Systeme und Positionen behandelt hat (die Phänomenologie deckt im Modus des bacchantischen Taumels auch die Beschränktheit nicht-philosophischer Einstellungen und Erfahrungen des natürlichen Bewusstseins, tatsächlich sich vollziehender Bewusstseinsakte wie sinnliche Gewissheit und Wahrnehmung (bis ins Vernunftkapitel hinein), intersubjektiver Elemente der Gemeinschaft und geschichtlicher Dimensionen auf), will ich mich im Folgenden auf das Produktive dieser Auffassung konzentrieren.
Seine Grundthese, Hegels Phänomenologie sei systemextern und systembegründend, ergänzt Theunissen also durch die Auffassung, sie stelle eine metaphilosophische Theorie dar, indem sie meta-theoretisch einzelne philosophische Theorien auf Inkonsistenzen und weitere Mängel prüfe. Sie sei damit keine eigenständige philosophische Position, sondern laufe erst auf eine solche, sie zugleich begründend, hinaus. Diese Argumentation wird in drei Teilen des Buches entwickelt. Im Einleitungsteil (23-85) wird dargelegt, worin die Rechtfertigungsfunktion der Phänomenologie bestehe, worauf sich ein zweiter Teil (89-140) zur Bestimmung dessen, was überhaupt unter einer Metaphilosophie zu verstehen ist, anschließt, um im letzten und ausführlichsten Teil (143-325) die gefundenen Merkmale auf Hegels Phänomenologie anzuwenden und sie damit als eine genuin metaphilosophische Theorie auszuweisen. Ich gehe im Folgenden vor allem auf den zweiten Teil ein, mit dem Theunissen den Rahmen eines rein philologisch-historiographisch ausgerichteten Diskurses um die Lesarten von Hegels Werken sprengt und einen eigenständigen und systematischen Beitrag zur Metaphilosophie anbietet. Das ist keineswegs ein willkürlicher Schritt, sondern hängt mit einer Reihe von aus guten Gründen vertretbaren Thesen zusammen, die ich besprechen will.
Warum man einen solchen Begriff wie Metaphilosophie überhaupt einführen will, und zudem noch im Zusammenhang mit der Phänomenologie, ergibt sich aus einem bestimmten Problemverständnis heraus, das sich laut Theunissen in der Geschichte der Philosophie erst in der Neuzeit herausgebildet habe und metaphilosophische Theoriebildung – die erstmals bei Kant auftrete und bei Hegel ihren Höhepunkt finde – notwendig machte (113-140). Das gleichzeitige faktische Auftreten einer unübersichtlichen Zahl philosophischer Theorien wurde plötzlich zu einem strukturellen systematischen Problem, das eine Topik (128) erforderte und nach Orientierung und Ordnung verlangte: die einzelnen Theorien schienen oder kamen mit dem Anspruch, gleichwertig zu sein. Eine bloße Stellungnahme oder Wahl zwischen denselben war nicht mehr eine attraktive und geeignete Strategie, den Widerstreit zu beenden. Theunissen bezeichnet dieses Problem als Isosthenie – während die pyrrhonischen Skeptiker die Seelenruhe durch die Feststellung der Gleichwertigkeit der Argumente und Gegenargumente eines Streits mithilfe der zehn bzw. fünf Tropen anstrebten, habe sich in der Neuzeit und insbesondere in der klassischen deutschen Philosophie ein Bewusstsein darüber entwickelt, dass philosophische Mittel grundsätzlich „systemisch mit Isosthenie infiziert sind“ (116).[6] Es war eine neuartige Theoriebildung erforderlich, um die Philosophie von ihrem isosthenen Charakter zu befreien, und diese konnte nicht mehr auf der Ebene der einander widerstreitenden Theorien erfolgen, sondern musste einen Schritt über sie hinaus tun und diesen Umstand selbst vergegenständlichen. Der Philosoph wurde – wie in Kants transzendentaler Dialektik – zum Beobachter der Streitigkeiten und zum Schiedsrichter über sie, und spätestens seit dem sich vollbringenden Skeptizismus der Phänomenologie wahrhaft zum Metaphilosophen (136-140).
Obwohl der Begriff Metaphilosophie vor allem in aktuellen Kontexten (89-112) etwa seit den 1960ern auftaucht (es gibt mittlerweile eine erste englischsprachige Einführung in die Metaphilosophie), plädiert Theunissen dafür, ihn genauso – wie man es etwa auch mit dem Begriff Erkenntnistheorie tut – rückwirkend für ältere Positionen zu verwenden, die bestimmte Merkmale metaphilosophischer Theorien aufweisen. Folgende Anforderungen müsse ein Projekt erfüllen, um als metaphilosophisch zu gelten (92ff.): (i) Wie der Terminus Metaphilosophie, den Theunissen dem alternativen Begriff Philosophie der Philosophie gegenüber bevorzugt, weil er stärker als der Letztere die Subjekt-Objekt-Spaltung hervorhebe (92 Fußnote 8)), suggeriert, müsse es sich bei der Metaphilosophie um Theorien über die philosophischen Theorien handeln. (ii) Dabei müssen sie mit dem Anspruch auftreten, argumentativ unabhängig von ihnen zu sein und (iii) eine bestimmte Begründungsleistung im Hinblick auf sie erbringen. Theunissen erkennt nun ausgehend von seiner Kritik an Rescher (108-112), und das sei hier besonders hervorgehoben, dass metaphilosophische Theoriebildungen grundsätzlich mit dem Problem behaftet sind, dass auch trotz des im Punkt (ii) genannten Anspruchs bestimmte Vorverständnisse dessen, was Philosophie ist, auf der Ebene der metaphilosophischen Überlegungen reproduziert werden. Denkt man sich die Metaphilosophie so, als wäre sie eine zweite, über der Philosophie liegende und von ihr abgetrennte Reflexionsstufe, so sind Argumentationen, die zirkulär scheinen werden, unvermeidbar und das Projekt der Metaphilosophie als einer Disziplin wird damit allgemein leicht angreifbar.[7] Theunissen schlägt aus diesem Grund in seinen meta-metaphilosophischen Überlegungen vor, die Selbstverständnisse der Philosophen, die sie während ihrer philosophischen Praxis entwickeln, mit in die metaphilosophische Prüfung einzubeziehen. Damit optiert er zugleich für eine „Historisierung des Metaphilosophiebegriffs“ (102), denn es habe in der Philosophiegeschichte bereits zahlreiche Selbstverständnisse der Philosophen gegeben, die untersucht und geprüft werden können – die Einführung eines Zwei-Stufen-Modells der Metaphilosophie gegen Ende des 20. Jahrhunderts setzte sich hingegen der Gefahr der Verabsolutierung eines einzigen Selbstverständnisses aus. Und das ist aus meiner Sicht eine sehr bedenkenswerte Einsicht, die Theunissen an dieser Stelle zu haben scheint.
Trotz meiner sehr positiven Einschätzung seines Forschungsbeitrags zur Metaphilosophie – auf den ich mich in dieser Rezension fokussiere – sehe ich aber mindestens drei Probleme und Verbesserungsmöglichkeiten. (I) Man könnte sich als Leserin oder Leser fragen, warum gerade das Isosthenieproblem, das Gleichwertig-Scheinen philosophischer Theorien, die Notwendigkeit einer Metaphilosophie zur systematischen Orientierung in der Pluralität philosophischer Positionen herbeiführe, verlangen doch gerade die Kämpfe, Dissense, Dynamiken und dogmatische Stellungnahmen, also die Relativität und das Ungleichwertig-Scheinen, nach metaphilosophischen Schiedsrichtern. Des Weiteren, ist nicht die Feststellung, dass mehrere oder alle philosophische Perspektiven gleichwertig seien, eine Bewertung, die man an sie von außen heranträgt und die auch ganz anders ausfallen könnte? Und warum sollte man sich nicht einfach mit der Gleichwertigkeit zufriedengeben? Der einzige Weg, Theunissens These – die philosophische Theoriebildung sei grundsätzlich mit dem Isosthenieproblem infiziert (11 und 113ff.), zu dem die Metaphilosophie das Heilmittel sei – zu verteidigen, wäre die Deutung der Isosthenie als eines performativen Produkts der Kämpfe und Dissense. Anders ausgedrückt, im Begriff der Isosthenie müssten die dynamischen Elemente des Widerstreits als dialektisch aufgehoben und zugleich gedacht werden – die Gleichwertigkeit hat sich erst im und durch den Streit zu erweisen, und zwar als etwas höchst Problematisches. Das hätte Theunissen bei seinen Reflexionen über die historisch faktisch-strukturell vorliegende Relativität philosophischer Projekte stärker hervorheben sollen.
(II) Da Theunissen in seiner Arbeit zwei miteinander verwobene Teilziele verfolgt, nämlich die Phänomenologie als ein systemexternes Unternehmen zu lesen und sie damit und dadurch als ein metaphilosophisches Projekt begreiflich zu machen, fällt seine Darstellung der Metaphilosophie und ihrer Merkmale demselben Problem anheim, das er bei Rescher gesehen hat. Zwar ist sie dem Anspruch nach von der Hegel’schen Philosophie unabhängig, doch verrät vor allem das dritte Merkmal (die Ansicht, die Metaphilosophie müsse nicht allein deskriptiv, sondern auch begründungsrelevant sein), dass Theunissens Verständnis der Metaphilosophie von seiner Lesart der Phänomenologie vorgeprägt ist, die für das System begründend sein soll. Beides ist im Vorhinein aufeinander abgestimmt und passt daher am Ende auch gut zusammen. Theunissen selbst gibt zwar zu, dass er sich in seiner Arbeit nur für diejenigen metaphilosophischen Überlegungen interessiert, die gemäß dem Merkmal (iii) begründungsrelevant sind (99). Das führt aber zur Unklarheit in Bezug auf das Verhältnis vom Begriff einer allgemeinen Metaphilosophie und einer konkreten Ausprägung derselben. Wenn die Merkmale (i)-(iii) für alle Formen metaphilosophischen Denkens gelten würden, wie sie doch eigentlich eingeführt werden, so wäre sein Metaphilosophiebegriff nicht unparteiisch. Und er ist es auch nicht, sondern von Problemen der Phänomenologie und Hegels Philosophie allgemein vorbestimmt, was auch zur Hervorhebung der Rolle der Isosthenie führt. Diese, wie ich mich ausdrücken will, „philosophische Vorbelastetheit“ metaphilosophischer Theorien, die ich als ein Grundproblem der Metaphilosophie ansehe (das ihre Möglichkeit aber nicht unbedingt grundsätzlich infrage stellt), zeigt sich bei Theunissen an vielen Stellen. So bestimmt er etwa eine philosophische Theorie „dem Selbstverständnis der metaphilosophisch reflektierenden Überlegungen gemäß“ (93) als eine Theorie, die (1) von dem handelt, was allein wahr und seiend ist, und die (2) dafür eine Begründungsleistung erbringt (ebenda). Was ist das aber für ein metaphilosophisches Selbstverständnis, das angesprochen ist? Offensichtlich ein solches, das entweder von traditionellen philosophischen Argumentationsmustern, die etwas als absolut wahr und seiend herausstellen wollen, oder von Hegels Beschreibung der einseitigen Wahrheitsansprüche der einzelnen Stufen der Phänomenologie herrührt. Theunissen kommt also selbst nicht wirklich aus dem Zirkel heraus, den er erkannt hat.
(III) Ein weiterer Punkt, der die Leserinnen und Leser nicht ganz überzeugen könnte, ist die Anwendung der gefundenen Bestimmungen der Metaphilosophie (die drei Merkmale und die Bedeutung des faktisch-strukturellen Isosthenieproblems) auf die Philosophie von Kant und Hegel. Wenn sie in der Tat nicht allgemeingültig sind, sondern im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Problemfeld der Phänomenologie stehen, so ist Kant automatisch derjenige von beiden, der noch nicht den wahrhaft metaphilosophischen Standpunkt erreicht hat (126). Wenn man bei ihm nach Streitigkeiten zwischen Theorien sucht, denen man wie ein Schiedsrichter zusieht, so stößt man auf Einiges, etwa zum Kampfplatz „Metaphysik“ und den Antinomien der reinen Vernunft. Das ist entsprechend weniger als bei Hegel: Für eine metaphilosophische Deutung von Kants Philosophie nach dem Muster von Theunissen „finden sich keine direkten Belege“ (137). Doch wie sieht es etwa mit Kants architektonischer Bestimmung der „Idee der Philosophie“ am Ende der Kritik der reinen Vernunft aus? Sind das nicht auch Überlegungen metaphilosophischer Art?
Was Hegel betrifft, so ist zwar die These, bei der Phänomenologie handele es sich um eine metaphilosophische Theorie, weil sie (i) philosophische Theorien zum Objekt habe, (ii) unabhängig von ihnen sei (d. h. systemextern) und (iii) eine Begründungsfunktion erfülle (d. h. das System begründe) nicht uninteressant,[8] doch ist es schwierig einzusehen, warum nicht das System, bzw. die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, genauso oder vielleicht sogar im stärkeren Maße eine Metaphilosophie darstellte. Hier werden im Durchgang der Denkbestimmungen (i) die Unwahrheiten einzelner philosophischer (und rational-einzelwissenschaftlicher) Gehalte und Positionierungen oder Seiten der absoluten Idee aufgedeckt, die (ii) insofern unabhängig von ihnen ist, als sie um ihre Beschränktheit und Unangemessenheit gegenüber ihrer wahren realisierten Allgemeinheit weiß und die (iii) sich im Ganzen eines sich selbst begründenden Systems zum Ausdruck bringt.
Trotz dieser Schwierigkeiten stellt Theunissens Arbeit m. E. einen bedeutenden und eigenständigen Beitrag nicht nur zur Hegel-, sondern auch zur Metaphilosophie-Forschung. Hervorzuheben sind insbesondere seine Einsichten in die Zirkularität der metaphilosophischen Erklärungen, in die Notwendigkeit der Historisierung des Metaphilosophiebegriffs und der Prüfung der philosophischen und metaphilosophischen Selbstverständnisse. Auch sein Abriss der Geschichte der Metaphilosophie im Ausgang vom Isosthenieproblem und auf Kosellecks Forschung aufbauende These von rascher Entwicklung philosophischer Theorien, die auf metaphilosophische Theoriebildungen hinausführe, sind sehr beachtenswert. Theunissens Buch ist in vielen Hinsichten genauso ambitioniert wie problematisch, und gerade deswegen spannend und fruchtbar. Man versetzt sich in eine lebendige und große Gedankenwelt, aus der man nicht mehr herauskommen will, und es bleibt nur zu wünschen, dass der Autor sie weiterentwickeln wird. Was die problematische Seite betrifft, so macht das Buch darauf aufmerksam, wie interessant und wenig diskutiert die mit der Metaphilosophie-Forschung verbundenen Schwierigkeiten sind. Das Hauptproblem bzw. die Wurzel aller Probleme habe ich oben im zweiten Kritikpunkt erwähnt. Es muss gefragt werden: Wie ist die Metaphilosophie angesichts der philosophischen Vorbelastetheit metaphilosophischer Theorien als eine einheitliche Disziplin möglich? Es zeichnet sich die Notwendigkeit für eine Meta-Metaphilosophie – für eine Kritik der metaphilosophischen Rationalität – ab.
[1] Während es im englischsprachigen Raum bereits zahlreiche Bücher und Aufsätze sowie sogar eine erste Einführung in die Metaphilosophie gibt (Theunissen geht darauf auf den Seiten 89-112 ein), ist die zweite Auflage von Bernhard H. F. Taurecks „Philosophie und Metaphilosophie“, Cuxhaven & Dartford: Traude Junghans Verlag aus dem Jahr 1998 nicht mehr zu kaufen. Lutz Geldsetzers Bemerkungen zur Metaphilosophie sind nur noch zum Teil aktuell. Bei Richard Raatzschs (2014): Philosophiephilosophie, Wiesbaden: Springer VS handelt es sich um die zweite Auflage seiner Arbeit aus dem Jahr 2000.
[2] Karasek, Jindrich (2016): [Rezension zu Theunissen, Brendan], in: Hegel-Studien 50, 289-252.
[3] Feige, Daniel M. (2017): [Rezension zu Theunissen, Brendan], in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 12/2014 (Logik), 323-327.
[4] Auf diesen geht apropos auch Giovanna Miolli in (2017): Hegel e metafilosofia: mappa di un problema, in: Verifiche: rivista trimestrale di scienze umane 48(1), 83-128 etwas ausführlicher ein.
[5] Vgl. Marx, Werner (2006): Hegels Phänomenologie des Geistes. Die Bestimmung ihrer Idee in „Vorrede“ und „Einleitung“, 3. Auflage, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 7.
[6] Zur Beantwortung Frage, warum das gerade zu diesem Zeitpunkt der allgemeinen Weltgeschichte geschah, rekurriert Theunissen auf Kosellecks These vom Beschleunigungsprozess des historischen Wandels seit der Sattelzeit um 1800. In der Neuzeit käme es auch in der Philosophie zu einer explosionsartig – Henrich vergleicht die Nachkantischen Entwicklungen mit der Explosion einer Supernova (125) – raschen Entwicklung philosophischer Theorien und Systeme, die die Notwendigkeit metaphilosophischer Überlegungen zur Folge hatten (122-125).
[7] Auf das Problem des Zirkels macht auch Richard Raatzsch, vgl. a.a.O. 55f., aufmerksam. Bob Plant, vgl. (2012) Philosophical Diversity and Disagreement, in: Metaphilosophy 43 (5): 567-591, 586f., unterstreicht auf eine interessante Weise, dass alle Philosophierenden, ob sie es wollen oder nicht, durch die vorläufige Beantwortung der Frage „Was ist Philosophie?“ in ihren Denkakten vorbestimmt sind. Damit plädiert er, m. E. zurecht, für eine bewusste und gezielte Auseinandersetzung mit der Metaphilosophie.
[8] Es wurde apropos auch im englischsprachigen Raum eine ähnliche Dissertation zur metaphilosophischen Lesart der Phänomenologie von Stephan Ellias geschrieben (vgl. die Stellungnahme von Theunissen 84, Fußnote 165).